Methode Laschet

Es geht um die staatsanwaltschaftliche Durchsuchung im Bundesfinanzministerium in Berlin. Der Heidelberger SPD-Abgeordnete und finanzpolitische Sprecher seiner Fraktion Lothar Binding kritisiert das Vorgehen der Untersuchung. „Dass die Staatsanwaltschaft Osnabrück eine sogenannte „Razzia“ macht, ist aus meiner Sicht klarer Wahlkampf dieser Staatsanwaltschaft für die CDU.“, so Binding. Der Oberstaatsanwalt sei aktives Mitglied der CDU und wäre auch politisch aktiv gewesen. „Das alles geht aus meiner Sicht überhaupt nicht“, so Binding weiter, und schloss sich somit dem Urteil der Wirtschaftsjournalistin der TAZ, Ulrike Herrmann an. Sie vermutet einen Justiz-Skandal. Das, was die Staatsanwaltschaft Osnabrück gemacht hätte sei völlig überzogen, betonte sie bei der TV-Sendung Maischberger. In Wahrheit sei es nur um die Identität von zwei Mitarbeitern der Geldwäsche-Einheit in Köln gegangen. „Das ging überhaupt nicht um das Finanzministerium.“, betonte sie. Sie sieht ganz andere Gründe hinter der Aktion.

Das sieht auch Binding so: „Die CDU schmeißt mit Dreck um sich und hofft darauf, dass etwas hängen bleibt“. Er unterstellt Armin Laschet im Wahlkampf unfaire Mittel und populistische Agitation. „Herr Laschet weiß das doch alles, auch im zweiten Triell hätte er falsche Tatsachenbehauptungen in Umlauf gebracht.

Aus Sicht Bindings war die Durchsuchung eine Farce. Die Informationen, die die Staatsanwälte gesucht hätten, angebliche Schriftwechsel zwischen Ministerialbeamten und der FIU, hätten sie auch einfach telefonisch abfragen können. Es hätte auch keine schriftliche oder mündliche Anfrage der Staatsanwaltschaft an das Finanzministerium gegeben, es wurde lediglich im Bundesjustizministerium eine telefonische Auskunft eingeholt.

Außerdem ärgert sich Binding über eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft. Darin steht, „ob und gegebenenfalls inwieweit die Leitung sowie Verantwortliche der Ministerien sowie vorgesetzte Dienststellen in Entscheidungen der FIU eingebunden waren“. Das sei von dem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Osnabrück nicht gedeckt, kritisiert Binding.

Für Binding ist das „manipulativer Wahlkampf“ und bringt nochmal zur Sprache, dass sowohl der Chef der Osnabrücker Staatsanwaltschaft, Bernard Südbeck als auch die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza CDU-Mitglieder wären.

Der Finanzpolitiker stellt sich die Frage, was die Anwälte mit einer Durchsuchung des Ministeriums eigentlich feststellen wollten? Die Staatsanwaltschaft hätte eine „Durchsuchung bei Beschuldigten“ und nicht wie geschehen eine „Durchsuchung bei anderen Personen“ beantragen müssen, betont der Abgeordnete. Wären die Anwälte gegen „Beschuldigte“ vorgegangen, müssten sie auch entsprechend konkret strafrechtlich ermitteln. „Die Staatsanwälte ermittelten aber ausdrücklich gegen Unbekannt“. Es ist Wahlkampf, aber wer mit Dreck schmeißt, macht sich die Hände schmutzig.

60plus Dialogtour mit Lothar Binding in Deutschland unterwegs

Um die SPD und ihre Bundestagskandidaten in den Wahlkreisen zu unterstützen, fährt Lothar Binding schon die vierte Woche mit seinem VW-Bus quer durch Deutschland. Im Gepäck hat er ein Glücksrad und natürlich seinen roten Zollstock. Heute ist er in Düsseldorf.

„Hallo, ich bin der Lothar Binding aus Heidelberg“, sagt der Wahlkämpfer. Der Bundesvorsitzende der AG SPD 60 plus, der Senioren-Organisation in der SPD, hat gerade seinen bunt beklebten VW-Bus geparkt und räumt nun den Kofferraum aus. Ein roter Tisch, ein Glücksrad und drei hohe Plexiglas-Röhren finden ihren Platz auf dem Asphalt. Das passiert in vielen Städten in Fußgängerzonen oder vor Einkaufszentren auf. „Wir hören zu und sprechen über unsere zukunftsfähige Politik mit Olaf Scholz“, sagt er. Neben vielen Broschüren packt Binding Kugelschreiber und die obligatorischen SPD-Gummibärchen aus.

Erste Passanten bleiben stehen und gucken zu. Manch einer dreht amüsiert ab und sagt: „Ich bin noch keine Sechzig“. Lothar Binding aber fängt ihn ein und erklärt, dass es in der Arbeitsgemeinschaft zwar viel Erfahrung gibt, gearbeitet werde aber für die Zukunft der Enkel und Kinder. „Die Rentner von heute können für ihre Vergangenheit nicht mehr viel erreichen, aber sie können politisch dafür sorgen, dass die Rente auch in Zukunft stabil bleibt und die Pflege ausgebaut wird“, erklärt er.

Für richtig Aufsehen sorgt Binding aber erst, als er seinen Lautsprecher in Betrieb nimmt. Der Finanzexperte der SPD-Bundestagsfraktion sagt: „Wir geben an unsere Enkel keine Schulden weiter, sondern eine gute Infrastruktur und zusätzlich auch die Vermögenstitel“ oder „Fast die Hälfte aller Deutschen hat überhaupt kein Vermögen“.

Wie das private Vermögen in Deutschland verteilt ist, erklärt Binding mit den drei Plexiglas-Röhren, die zum Teil mit kleinen bunten Plastikbällen gefüllt sind. Eine Röhre ist komplett voll und darauf steht „20 Prozent“. Die nächste Röhre ist nur zu einem Viertel gefüllt, darauf steht „80 Prozent“. In der dritten Röhre sind keine Bälle, darauf steht „Wir alle – der Staat“. Eine Zuhörerin lacht und moniert, dass die SPD nicht rechnen könne, oder die Röhren seien falsch beschriftet.

Binding legt nun los. Die volle Röhre symbolisiere die privaten Vermögen, die nur 20 Prozent der Bevölkerung gehöre, „drei Viertel“ erklärt er. Die restlichen 80 Prozent der Bevölkerung kämen auf viel weniger und zeigt auf die zweite Röhre „ein Viertel“. Jetzt nimmt Binding vier Bälle aus der vollen Röhre und wirft sie in die leere Röhre. Dann zeigt er auf die quasi immer noch volle erste Röhre und sagt: „Jetzt sieht man, wie die Vermögenssteuer wirkt, die Vermögenden sind total arm geworden und drohen damit Deutschland zu verlassen.“ Alle Zuhörer lachen.

Auch sein legendärer Zollstock kommt zum Einsatz. In seine Ausführungen streut er die eine oder andere Anekdote und spricht dabei über Einkommensgerechtigkeit. Die Stehengebliebenen wundern sich, denn viele verstehen den Begriff „Spitzensteuersatz“ danach zum ersten Mal. Dabei greift er die FDP an. Sie würden die Menschen „hinter die Fichte führen“, betont er. „Die behaupten allen Erstens in ihrem Wahlprogramm, ein Facharbeiter mit 56.000 Euro Bruttogehalts müsse heute den Spitzensteuersatz von 42 Prozent zahlen“. Das wäre natürlich unwahr, denn bei diesem Einkommen liege der Steuersatz bei ungefähr der Hälfte, weil Deutschland einen linear progressiven Tarif habe. Der Anstieg sowohl des Grenzsteuersatzes als auch des Durchschnittsteuersatzes erfolge kontinuierlich, erklärt er.

„Die Ideen der Aktion haben wir mit 60 plus Mitgliedern und dem Bundesvorstand selbst entwickelt“, erzählt Lothar Binding etwas später. Das sei ein Vorteil, wenn man lange in der Jugendarbeit aktiv war. So auch das Glücksrad, bei dem man nur gewinnen kann: Bleibt es bei einem bestimmten Begriff wie „Rente“, „Internet“ oder „Wohnen“ stehen, klappt Binding das obere Papier zur Seite und darunter kommt der jeweilige Inhalt aus dem SPD-Wahlprogramm zum Vorschein.

Los ging alles am 16. Juli in Offenburg. Über Stuttgart, München, Erlangen, Dresden, Leipzig und Magdeburg ging es nach Berlin, dann über Hamburg nach Norden in Ostfriesland und schließlich in Richtung Nordrhein-Westphalen. „In Augsburg, sonntags um 9:00 hat sich ein längerer Vortrag über Steuern und den Sinn von Staatsschulden ergeben.“ berichtet Lothar Binding. Bei Weißwurst- und Weißbierfrühstück, wollten die über 50 Zuhörer immer mehr erfahren.

Die insgesamt vierwöchige Tour – zwei Wochen im Juli, zwei weitere Ende August – ist ein Beitrag der AG 60plus zum SPD-Bundestagswahlkampf. Binding hat die Tour konzipiert, das Standdesign entwickelt und fährt auch den roten Bus meist selbst. Nur eine Unterstützung für die Social-Media-Arbeit hat er dabei. Und vor Ort – in jeder Stadt kommen die Aktiven der Arbeitsgemeinschaft, stehen Rede und Antwort und verteilen Informationen. Es ist das erste Mal, dass die AG SPD 60 plus eine solche Städte-Tour macht. Am Ende werden es 66 sein.

„Wir freuen uns sehr, dass du da bist“, begrüßt Andreas Rimkus Binding etwas später. Er ist ein Düsseldorfer MdB und kandidiert im September wieder für den Bundestag. In einem kurzen Video-Interview befragt ihn Binding zu seinen Zielen. „Bei der Tour geht es nicht um die AG 60 plus oder um mich, es geht um die Kandidaten vor Ort“, erklärt Binding, der selbst nicht wieder für den Bundestag antritt. Er bietet nun anderen eine Bühne und einen Anlass, ihren Arbeits-Schwerpunkt öffentlich vorzustellen.

Zwischendurch hat Lothar Binding an einem Marktstand in der Nähe noch Blumen gekauft und verteilt nun knallrote Moosröschen an Passanten. „Das ist immer eine gute Gelegenheit ins Gespräch zu kommen“, verrät er. Nach etwas mehr als zwei Stunden und vielen Gesprächen packt Binding seine Sachen wieder in den roten Bus. Er muss auf die Straße. Am Nachmittag steht der nächste Termin in Mönchengladbach an.

Steuerpolitische Vorstellungen der Union

Wahlprogramm der CDU/CSU – Steuer- und finanzpolitische Aussagen

 

Vorbemerkung:

Auffällig sind die gravierenden Unterschiede des CDU/CSU Programms zu seiner Entwurfsfassung. Es fehlen fast alle Zahlen und Festlegungen. Deshalb scheint es schwierig, die fiskalischen Wirkungen zu berechnen.

Allerdings ist einfach, den inneren Grundwiderspruch zu erläutern:

  • Die Schuldenbremse soll gelten, die Schuldenquote bei unter 60 Prozent liegen
    UND
  • es wird weniger Steuereinnahmen, gleichzeitig mehr Ausgaben geben.

So viel Sozialausgaben, so viel Rente kann man gar nicht kürzen, um diesen Widerspruch aufzulösen.

Im SPD-Zukunftsprogramm ist nicht alles festgelegt, im CDU/CSU Programm bleibt vieles vage. Der Unterschied: Die CDU/CSU brauchen diese Unbestimmtheit, um den unauflösbaren Grundwiderspruch zu verstecken.

 

Nun zum Programm:

  1. Steuer- und finanzpolitische Aussagen

 

  1. Generelle Unions-Versprechen

Die Union stellt ihrem finanz- und steuerpolitischen Kapitel folgende generelle Versprechen voran:

  • „Wir werden dafür sorgen, dass alle Menschen, die jeden Tag hart arbeiten und viel leisten, entlastet werden“ (Zeilen 2445-2446).
  • „Wir werden Freiräume für unsere Unternehmen schaffen…“ (Zeilen 2446-2447)
  • „Gleichzeitig wollen wir so schnell wie möglich ohne neue Schulden auskommen“ (Zeile 2448).
  • Auch außerhalb ihres finanz- und steuerpolitischen Kapitels finden sich generelle Versprechen wie etwa hinsichtlich des Verzichts auf eine Erhöhung vermögensbezogener Steuern:
  • „Wir treten entschieden allen Überlegungen zur Einführung neuer Substanzsteuern wie der Vermögensteuer oder der Erhöhung der Erbschaftssteuer entgegen. Beides würde vor allem auch die wirtschaftliche Substanz Deutschlands gefährden und Arbeitsplätze kosten.“ (Zeile 1120-1123)

 

  1. Haushaltpolitische Festlegungen

Die Union nennt keine Fristen…

  • „Wir bekennen uns zur grundgesetzlichen Schuldenbremse. … Grundgesetzänderungen zur Aufweichung der Schuldenbremse lehnen wir ab“ (Zeilen 2475 bis 2477).
  • „Wir wollen so schnell wie möglich wieder ausgeglichene Haushalte ohne neue Schulden erreichen und die gesamtstaatliche Schuldenquote auf unter 60 Prozent reduzieren“ (Zeilen 2478-2479).

 

  1. Unternehmensbesteuerung

Es gab ununterbrochen zwei Jahre Ankündigungen, nichts davon im Programm:

  • „Wir wollen die Wirtschaft nach der Pandemie wieder in Schwung bringen. Auf diesem Weg wäre es falsch Steuern zu erhöhen“ (Zeilen 2494-2495).
  • „Im Rahmen eines umfangreichen Entfesselungspakets werden wir mit einer Unternehmensteuerreform die Besteuerung modernisieren und wettbewerbsfähig machen“ (Zeile 2501-2501).

 

  1. Einkommensteuer/ Solidaritätszuschlag

Alles bleibt vage…

  • „Wir wollen … Spielräume, soweit sie sich eröffnen, nutzen, um die Menschen zu entlasten, … damit sie mehr Netto vom Brutto haben.
  • „Wir werden den Solidaritätszuschlag für alle schrittweise abschaffen und gleichzeitig kleine und mittlere Einkommen bei der Einkommensteuer entlasten“ (Zeilen 2511-2512).
  • „Wir werden auf künftig die Wirkungen der sogenannten kalten Progression ausgleichen, indem wir den Einkommensteuertarif regelmäßig an die allgemeine Preisentwicklung anpassen“ (Zeilen 2513-2514).

 

  1. Besteuerung von Ehegatten und Familien

Perspektivisch…

  • „Wir halten am Ehegattensplitting fest…“ (Zeile 2520).
  • „Perspektivisch streben wir den vollen Grundfreibetrag für Kinder an und finden damit den Einstieg in einen Kindersplitting“ (Zeilen 2523-2524).
  • „Wir haben den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende auf 4.008 Euro verdoppelt. Wir wollen ihn perspektivisch auf 5.000 Euro weiter erhöhen“ (Zeilen 2525-2526).
  • „Wir werden die steuerliche Berücksichtigung haushaltsnaher Dienstleistungen verbessern“ (Zeilen 2527-2528).
  • „Den Ländern werden wir ermöglichen, einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer von 250.000 Euro pro Erwachsenem plus 100.000 Euro pro Kind beim erstmaligen Erwerb selbstgenutzten Wohnraums zu gewähren.“ (Zeile 2720-2722)

 

  1. Vereinfachung der Steuererklärung

The same procedure …

  • „Wir setzen uns für ein einfaches und verständliches Steuerrecht ein“ (Zeile 2533).
  • „Wir werden dafür sorgen, dass die Steuererklärung, alle Anträge und der Schriftwechsel online erfolgen können“ (Zeile 2536-2537).
  • „Wir werden die Steuererklärung für alle vereinfachen, vor allem für ältere Menschen, die Renten und Pensionen beziehen. Dafür wollen wir die vorausgefüllte Steuererklärung verbessern Hierzu soll bereits ab Frühjahr 2022 für dien Veranlagungszeitraum 2021 eine einfache Anwendung zur Verfügung stehen (Zeilen 2541-2544).

 

  1. Bekämpfung Steuergestaltung, Steuerhinterziehung und schädlichen Steuerwettbewerb.

Leere Ankündigungen – CDU/CSU haben alles getan um Steuerschlupflöcher offen zu halten…

  • „Wir werden weiter Steuerschlupflöcher schließen, Steuerhinterziehung sowie schädliche Formen des Steuerwettbewerbs wirksam unterbinden und aggressive Steuergestaltungen bekämpfen“ (Zeilen 2551-2553).
  • „Wir werden dabei nur dann erfolgreich sein, wenn wir uns mit unseren internationalen Partnern abstimmen“ (Zielen 2554-2555).
  • „Wir setzen uns auf OECD-Ebene ebenfalls für eine faire Besteuerung der digitalen Wirtschaft ein. Große digitale Konzerne sollen ihre Steuern auch dort zahlen, wo sie ihre Umsätze erzielen“ (Zeilen 2560-2562).
  • „Wir brauchen eine gemeinsame Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage…“ (Zeile 2563).
  • „Wir werden Umsatzsteuerbetrug weiter eindämmen und Steuerschlupflöcher schließen“ (Zeilen 2568-2569).
  • „Wir setzen uns für eine europäischen Finanztransaktionsteuer mit breiter Bemessungsgrundlage ein. Sie darf jedoch Kleinanleger und die private Altersvorsorge nicht belasten“ (Zeilen 2570-2572).

 

  1. Mitarbeiterkapitalbeteiligung/ Vermögensbildung

Wir dürfen gespannt sein…

  • „Unser Ziel ist es, die Mitarbeiterkapitalbeteiligung weiter zu verbessern“ (Zeile 2584).
  • „Wir werden den Sparer-Pauschbetrag und die Arbeitnehmersparzulage erhöhen“ (Zeile 2594).
  • „Wir werden die vermögenswirksamen Leistungen stärken und den Höchstbetrag, den Arbeitnehmer von ihrem Arbeitgeber erhalten können, erhöhen“ (Zeilen 2595-2596).
  • „Gewinne aus vermögenswirksamen Leistungen sollen nach der Mindesthaltefrist steuerfrei sein“ (Zeilen 2597-2598).

 

  1. Vermögensteuer

Die Reichen werden reicher …

  • Wir lehnen zusätzliche Lasten wie eine Wiedereinführung der Vermögensteuer ab“ (Zeile 2601).

 

  1. Finanzmarktpolitik

Plötzlich entdeckt…

  • „Innerhalb einer starken Banken- und Kapitalmarktunion wollen wir Deutschland zum führenden Finanzstandort, insbesondere für nachhaltige Produkte machen“ (Zeilen 2609-2610).
  • „Wir streben einen eigenen Börsenplatz nach dem Vorbild der NASDAQ an“ (Zeile 2615).

 

  1. Verbraucher- und Anlegerschutz

Gutes Programm – es sei denn es wird ernst…

  • „Auch auf dem Finanzmarkt setzten wir auf einen fairen Wettbewerb, Schutz der Verbraucherinteressen, finanzielle Bildung, Transparenz bei Finanzprodukten sowie eine starke Aufsicht (Zeilen 2621-2623).

 

  1. Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen

Prima Idee – alle Länder warten auf CDU und CSU …

  • „Uns leitet das demokratische Prinzip klarer Verantwortlichkeit: Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, wer wofür in unserem Staat Verantwortung trägt. Dazu werden wir die Finanzenbeziehungen von Bund, Länder und Kommunen zeitgemäß ordnen und eine aufgabengerechte Finanzverteilung festlegen. Wir wollen Mischfinanzierung künftig vermeiden und mögliche Nachteile für die Länder und Kommunen im Gegenzug entsprechend durch einen höheren Umsatzsteueranteil ausgleichen. Dabei verfahren wir nach dem Grundsatz: Das Geld folgt der Aufgabe.“ (Zeile 3458-2364)

 

 

  1. Unsere Einschätzung

 

Unsolide Versprechungen

Das Wahlprogramm der Union ist unsolide. Das wird an den generellen Unions-Versprechen deutlich, die sowohl Entlastungen, die Rückführung der Verschuldung als auch eine Absage an Steuererhöhungen vorsehen. So bleibt offen, wie Entlastungen und Investitionen in eine Modernisierung der Gesellschaft konkret finanziert werden sollen.

Gleichzeitig weckt das Wahlprogramm Erwartungen, die es nicht erfüllen kann – eine komplette Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen dürfte in der kommenden Legislaturperiode mit schwierigen Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat völlig unrealistisch sein. Ein Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer wird von vielen Ländern, die die Ertrags- und Verwal-tungshoheit über die Grunderwerbsteuer innehaben, strikt abgelehnt.

 

Verzicht auf Wachstum, Beschäftigung und eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit

Die unfinanzierten Steuerentlastungen und die Priorisierung des Schuldenabbaus führen zwangsläufig zu sinkenden öffentlichen Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Forschung, Gesundheit und Klimaschutz. Die Umsetzung des Programms der Union wird somit zu weniger Wachstum, niedrigerer Beschäftigung und geringerer wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit führen.

 

Vermeidung konkreter Festlegungen

Im Vergleich zu zunächst bekannt gewordenen konkreten steuerpolitischen Ankündigungen bleibt das endgültige Wahlprogramm an vielen Stellen vage.

Sah die Entwurfsfassung noch eine Absenkung der Steuerlast für Unternehmensgewinne auf 25 Prozent vor, wird nun nur noch eine Unternehmensteuerreform angekündigt, die die Besteu-erung modernisieren und wettbewerbsfähig machen soll.

Die Ankündigung einer Anhebung des Kinderfreibetrags auf das Erwachsenenniveau wurde durch Einfügung des Wortes „perspektivisch“ auf unbestimmte Zeit verschoben.

Enthielt die Entwurfsfassung noch einen Steuerabzug für haushaltsnahe Dienstleistungen von 35 Prozent, maximal 5.000 Euro, so soll nun nur noch ihre steuerliche Berücksichtigung verbessert werden.

Die bisher vorgesehene Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags auf 1.250 Euro ist ganz weggefallen.

 

Keine stärkere Beteiligung der Vermögenden und Erben

Die Union lehnt zusätzliche Lasten, wie die Wiedereinführung einer Vermögensteuer ab. Dieser Satz ist nicht nur als Ablehnung einer Vermögensteuer, sondern auch als Verzicht auf eine Erhöhung der anderen vermögensbezogenen Steuern wie der Erbschaftsteuer oder der Besteuerung von Kapitaleinkünften zu verstehen. Die Union verzichtet somit auf eine stärkere Beteiligung der Vermögenden und Erben an der Finanzierung der Krisenlasten aus der Corona-Pandemie.

Die Union eröffnet außerdem mit ihrer Ankündigung, Gewinne aus vermögenswirksamen Leistungen nach der Mindesthaltefrist von der Steuer zu befreien, einen Ausstieg aus der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen aus privaten Kapitalanlagen.

 

Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuergestaltung – nur international

Die Union bekennt sich zwar wie schon seit Jahren offiziell zu einem Vorgehen gegen Steuerschlupflöcher, Steuerhinterziehung und schädlichen Steuerwettbewerb. Sie ist aber nur zu einem international abgestimmten Vorgehen bereit. Ein nationales Vorangehen oder ein Vorgehen mit einer Gruppe Gleichgesinnter wird damit ausgeschlossen.

 

Keine konkreten Festlegungen beim Verbraucher- und Anlegerschutz

Auch die Ankündigungen beim Verbraucher- und Anlegerschutz sind ohne Ambition.

Steuer kann tödlich sein?

Lobbyismus existiert in vielfältigen Formen: fachlich informativ, hilfreich, dialogisch, aufdringlich, dezent, schmuddelig, garniert mit Geschenken, unanständig, egoistisch, entlang der Wahrheit oder gestützt auf Lügengeschichten… als Politiker:in erlebt man viel Ungewöhnliches.

Was sich am Mittwoch, den 21. April 2021, in einer Sitzungswoche abends abspielte, war aber doch selten aufdringlich, laut, gewaltig.

Innerhalb des befriedeten Bezirks, direkt zwischen Reichstag und Spree gab es eine „Kundgebung“. Bereits am 20. April wurde eine riesige Leinwand mit dazugehörigem Equipment zur Beschallung von Reichstag, Paul-Löbe-Haus und Jakob-Kaiser-Haus aufgebaut, die am Tag darauf auch bis in die Eingangshalle Ost des Reichstags zu hören war.

Am 22. April wurde alles wieder abgebaut. Die drei Hauptbotschaften der teuren Aktion:

  1. Geld spielt keine Rolle,
  2. Sucht ist gesund und
  3. in der Gesetzgebung des Bundestages haben die Tabak- und E-Zigarettenindustrie ein Wörtchen mitzureden.

Angemeldet war die Aktion vom Verband des eZigarettenhandels VdeH e.V. (nicht zu verwechseln mit dem Bundesverband Tabakwirtschaft und neuartiger Erzeugnisse BVTE). Hier haben also Unternehmen, die elektrische Zigaretten und Liquids herstellen oder verkaufen, einen Lobbyverband gegründet.

Wir haben es dabei mit Leuten zu tun, deren Geschäftsmodell darin besteht, Sucht zu verkaufen und häufig ärmeren Leuten via Sucht das Geld aus der Tasche zu ziehen, um sich solche Aktionen wie vor dem Reichstag leisten zu können. Und die Aktion diente dem Zweck, sich in die Gesetzgebung einzumischen, um Steuern zu sparen.

Worum geht es der Tabak- und Dampfindustrie?
Der vom Kabinett beschlossene Entwurf des Tabaksteuermodernisierungsgesetzes mit der schönen Abkürzung TabStMoG enthält Steueranpassungen und Steueranhebungen für Tabakprodukte:

  • Die Steuern für Tabak sollen vorsichtig angehoben werden – leider viel zu gering, aber besser als nichts. Die Steuern kompensieren kaum 15 Prozent des angerichteten volkswirtschaftlichen Schadens (den Steuereinnahmen stehen durch die Sucht entstehende gesellschaftliche Kosten wie Frühverrentung, Krebstherapien, Reha-Aufenthalte… entgegen). In Geld gemessen. Das Leid der Krebskranken und Herz-Kreislauf-Geschädigten kommt hinzu. Ein Raucherbein lässt sich nicht gut in Euro bewerten.
  • Die Steuern sollen auch auf nikotinhaltige E-Zigaretten und Liquids im Sinne des Tabaksteuergesetzes (als Ausweichprodukt für Zigaretten) erhoben werden. (E-Zigarette wird auch VAPE genannt, vaping = dampfen)
  • Es sollen „Heat-not-Burn-Produkte“ künftig im Ergebnis wie Zigaretten besteuert werden. Die bisherige Klassifizierung „als Rauchtabak“ und die marginale (vernachlässigbar geringe) Besteuerung mit dem Steuertarif für Pfeifentabak soll beibehalten werden.
    Zwei Marken dominieren den Heat-not-Burn-Markt: IQOS von Philip Morris und glo™ von BAT. (Tabak Sticks, bei BAT heißen sie neo™ sticks, werden im glo™ Tabak Heater eingesetzt auf etwa 270°C erhitzt.)

Auf der eingangs erwähnten Veranstaltung zeigte sich erneut die Werbestrategie der Sucht-Lobby: es war die Rede von „gesünder als“, das Steuergesetz solle doch „im Gesundheitsausschuss beraten“ werden, Aussteigern aus der (selbst induzierten) Tabaksucht soll geholfen werden, Jugendliche und Kinder sollen nicht in die Sucht gelockt werden… fast eine Veranstaltung der Diakonie und Caritas.

Nichts zu hören war dagegen z.B. von der Bedeutung von Nikotinsalzen. Nikotinsalz ist einer der Stoffe in E-Liquids, stark krebserregend, hochtoxisch, also giftig. In den E-Liquids sind natürlich nur kleine Mengen, tote Kund:innen sind schließlich schlechte Kund:innen. Aber über die Langzeitschäden durch Dampfen mit Nikotinsalzen bei hohen Temperaturen hätten wir gern mehr erfahren.

So war es auch früher schon. Die Tabakindustrie hat darüber aufgeklärt, wie harmlos Nikotin ist, wie leicht die Zigarette light, wie Rauchen ein Zeichen von Freiheit (abgesehen vom Zwang zur Sucht), Geselligkeit (abgesehen vom Dreibettzimmer auf der Krebsstation) und Gemütlichkeit (weil man die Hautschäden im verrauchten Zimmer nicht so sieht) ist.

Auch die Sterberaten wurden verharmlost – schließlich gibt es vielfältige Umweltbelastungen oder schlechtere Produkte, die viel schlimmer sein können… Man suggerierte, ein gutes Produkt zu verkaufen, weil es noch schlechtere Produkte und andere Gefahren gäbe.

Und so ist es heute wieder: Dampfen ist viel gesünder als Rauchen, so wie es viel harmloser ist, aus dem fünften Stock zu springen als aus dem zwölften. Deshalb stoßen wir bei der Tabak- und Dampf-Lobby auch so oft auf den Begriff „harm reduction“ (Harm = Schaden oder Leid, reduction = Reduktion).

Auf der Veranstaltung vor dem Reichstag ging es also um Geld, darum, Druck auf die Politik auszuüben, die Steuern möglichst harmlos anzuheben. Denn eine immer wieder schrittweise Anhebung hat sehr viel geringere Chancen, die machtvolle Sucht der Konsumentinnen und Konsumenten zu durchbrechen. Anstatt den Abhängigen wirklich zu helfen, soll nach dem Willen der Industrie vielmehr der Umstieg auf wenig erforschte, also weniger schädliche, also gesunde heat-not-burn Produkte gefördert werden. Kluge Suchtprävention und –behandlung zielt aber auf den Ausstieg bzw. Nicht-Einstieg. Diese Industrie, stets „mittelständig“ genannt, zielt dagegen auf den Umstieg und schließlich den Parallelkonsum von Tabakzigaretten und E-Zigaretten. Man nimmt den Kunden von zwei Seiten in die Zange.

Mit den seit Jahrzehnten gleichen und ewig falschen Argumenten, die Steuer würde Arbeitsplätze vernichten, die Steuer führe in den Schwarzmarkt, soll uns Angst gemacht werden – vor einer kleinen Steuer. Und wenn Arbeitsplätze für Krankheit und Tod wegfallen, ist das prima, denn die hoch qualifizierten Arbeitnehmer:innen finden mühelos in seriösen Branchen neue Arbeit und haben dann sogar ein gutes Gewissen. Ob das überbezahlte, gewissenlose Management direkt eine Anschlussbeschäftigung findet, muss die größte Sorge nicht sein.

Eben jenes Management ist hinterhältig wie eh und je: Nicht Nikotinsalz, das 1,2 Propylenglykol E1520 und das Pflanzliche Glycerin (VG) bzw. die beim Erhitzen entstehenden, noch lange nicht erforschten gefährlichen Stoffe seien in ihrer Langzeitwirkung tödlich – nein: die „Nikotinsteuer kann tödlich sein“; so zu lesen auf der Website des VdeH e.V. am 19. April 2021 und auf einer gigantischen Plakattafel am 21. April direkt vor dem Reichstag:

Foto: M. Schrodi

Was steht auf den Zigarettenschachteln? „Rauchen kann tödlich sein“. So ein Zufall. Die Steuer ist so gefährlich wie das altmodische Rauchen und die Steuer verhindert die neuen dampfenden Gesundheitsprodukte. Was für eine infame Transformation. Muss künftig auf Steuergesetzen stehen: „Steuerzahlung kann tödlich sein“? Natürlich zielt auch diese Kampagne der Tabakindustrie trotz gegenteiliger Beteuerungen auf Jugendliche, um sie entweder von der einen Sucht (Rauchen) in die nächste Sucht (Dampfen) zu locken oder sie überhaupt erst als Neukund:innen abhängig zu machen. Denn im Alter von über 20 Jahren fallen nur noch sehr wenige Leute der Sucht anheim.

Die Tabaklobby hat die wahren Kosten der Nikotinschäden jahrzehntelang verschleiert und kleingerechnet. Im Nichtwissen der Kundinnen und Kunden wurde mutig weiter verkauft und geraucht… bis zur schrecklichen Diagnose und selbst dann ist die Sucht oft stärker.

Dieser Prozess wird jetzt offensichtlich erneut organisiert; es ist die Fortsetzung der Strategie, die die Tabakkonzerne seit langem tödlich erfolgreich fahren. Geschäftsführer des Bundesverband Tabakwirtschaft und neuartiger Erzeugnisse (BVTE) ist übrigens der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete Jan Mücke. Hier zeigt sich, wie weit der dicke Lobbyarm der Tabakindustrie immer noch in die Exekutive und leider auch ins Parlament reicht.

Im Zuge der Kampagne gegen die Besteuerung von E-Zigaretten und Heat-not-burn Geräten werden nun auch einzelne Kolleginnen und Kollegen von der Tabak- und Dampflobby aufgesucht, um Gespräche gebeten, telefonisch bedrängt, um mit den unehrlichen Argumenten – Gesundheit, Freiheit, Arbeitsplätze, Schmuggel, gepanschte Liquids, etc. – bearbeitet zu werden, die Steuervorschläge für E-Zigaretten und Heat-not-burn aus dem Bundesfinanzministerium abzusenken. Dabei sind die Vorschläge aus dem BMF schon ein ärgerlicher Kompromiss. Es wäre mit Blick auf den Schutz der Jugend und der Sucht-Einsteiger – die sehr wichtig sind für das Geschäftsmodell: Gewinne aus der Sucht zu generieren – im Gegenteil notwendig, höhere Steuern zu erheben.

Zusammenfassung:

Falsch ist: „Nikotinsteuer kann tödlich sein“;

Richtig ist: „Rauchen kann tödlich sein“

Richtig ist: „Dampfen kann tödlich sein“

Auch wenn es in der CDU vorsichtige, in der CSU stärkere Bereitschaft gibt, über die Vorschläge der Lobby bzw. der Industrie nachzudenken… eine kluge und verantwortliche Politik darf sich solchem Druck nicht beugen.

Persönliche Erklärung nach § 31 GO BT von Lothar Binding

Persönliche Erklärung nach § 31 GO BT von Lothar Binding
zum Abstimmungsverhalten am 19. Mai 2021 zum Tagesordnungspunkt 6b:
2./3. Lesung des von der Fraktion B90/Die Grünen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Transsexuellengesetzes und Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes (BT-Drs. 19/19755)
2./3. Lesung des von der FDP-Fraktion eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung (BT-Drs. 19/20048)

Mit dem Gesetz zur Änderung der in das Geburtsregister einzutragenden Angaben und der Verbesserung der Situation intergeschlechtlicher Menschen konnte die SPD-Bundestagsfraktion Ende 2018 erste Verbesserungen für intergeschlechtliche Menschen erreichen. Im März 2021 haben wir das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung verabschiedet und mit dem dort geregelten „OP-Verbot“ das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit gestärkt.
An diese beiden wichtigen Gesetze hätte ich gern mit einer Reform des Transsexuellengesetzes (TSG) angeknüpft. Das Gesetz sollte aus meiner Sicht in seiner bestehenden Form schlicht abgeschafft werden. Die SPD setzt sich bereits seit vielen Jahren dafür ein, hier völlig neue Regelungen zu finden.

Selbstbestimmungsrecht
Eine Reform macht allerdings nur dann Sinn, wenn dabei das Prinzip der Anerkennung der Geschlechtsidentität und der Schutz der Selbstbestimmung bei der Geschlechterzuordnung die Grundlagen sind. Eine Reform, die das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, war mit unserem Koalitionspartner in dieser Legislaturperiode leider nicht zu machen. Trotz intensiver Bemühungen und unzähligen Verhandlungsrunden. Die SPD-Bundestagsfraktion hat zusammen mit der Bundesjustizministerin und der Bundesfamilienministerin immer wieder Anläufe gestartet, um eine Reform zu erreichen, die diesen Namen auch verdient. Allerdings konnte weder mit CDU noch mit CSU ein auch nur annähernd tragbarer Kompromiss gefunden werden. In dieser Legislaturperiode konnten mehrere Entwürfe aufgrund des Widerstands unseres Koalitionspartners noch nicht einmal als Vorlage ins Kabinett gebracht werden. Daher haben wir uns im April dieses Jahres entschieden die Verhandlungen der Reform zum TSG zu beenden. Mein und unser Ziel ist eine Reform im Sinne der geschlechtlichen Selbstbestimmung, nicht eine Reform um jeden Preis.
Beratung ohne Diskriminierung Im Mittelpunkt unserer Kritik stand unter anderem die Ausgestaltung der Beratung der Betroffenen als Ersatz für die bislang vorgesehenen psychologischen Gutachten. Während wir eine analog zur Schwangerschaftskonfliktberatung ergebnisoffene Konsultation für sinnvoll erachten, wollte die Union als Minimum eine Beratung, die durch die Einschaltung von Psychologen und Medizinern immer noch einen pathologisierenden Charakter hat. Diese Beratungsart lehnen wir klar ab. Transsexualität ist keine Krankheit! Daher bedarf es aus unserer Sicht für die personenstandsrechtliche Änderung keines medizinpsychologisch geschulten Personals. Sonst würde die bisherige Diskriminierung fortgesetzt und die Unterstellung einer Krankheit würde zementiert, statt abgeschafft.

Die Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen Grüne und Linke enthalten wichtige Forderungen, die zum großen Teil auch in den Entwürfen der SPD Fraktion stehen. Die Ministerien für Recht und Verbraucherschutz sowie für Familie, Senioren, Frauen und Jugend haben bereits die entsprechenden konkreten gesetzliche Regelungen entworfen, die aber allesamt von der Union verworfen werden.

Koalitionsvertrag – pro und contra
Da wir mit CDU und CSU eine Koalition bilden, sind wir an die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag gebunden. Hier ist festgelegt, dass wir als Regierungskoalition einheitlich abstimmen. In manchen Fällen ist das auch für uns hilfreich, weil damit einige rückwärtsgewandte Initiativen abgewendet werden können, schließlich hätten CDU/CSU, FDP mit den Rechtsextremen eine parlamentarische Mehrheit. Im vorliegenden Fall ist es besonders schmerzlich, aber eine Zustimmung wäre mir nicht ohne Vertragsbruch möglich.
Unser Gesetzentwurf und die beiden Entwürfe der Opposition sind eine gute Grundlage um dieses Thema mit anderen Mehrheiten in der nächsten Legislaturperiode erneut und im Sinne der geschlechtlichen Selbstbestimmung anzugehen und zu einigen.

Empathie ist nicht binär
Neben dem formalen Argument Koalitionsvertrag, könnte ich aber gleichwohl den Entwürfen der Oppositionsfraktionen nicht zustimmen. Im Entwurf von B90/Die Grünen § 3 Abs. 2 und in dem der FDP § 11 Abs. 2 ist vorgesehen, dass ein Kind mit der Vollendung des 14. Lebensjahrs, einem genitalverändernden chirurgischen Eingriff einwilligen darf. Zusätzlich bedarf es der Zustimmung der sorgeberechtigen Person oder der Genehmigung des Familiengerichts. Im Alter von 14 Jahren, mitten in der Pubertät, ist das eine sehr weitreichende Entscheidung, die schon zwei Jahre später bitter bereut werden könnte.
Ich halte es für falsch, dass sich 14-jährige junge Menschen zu einem massiven operativen Eingriff entscheiden können sollen, der ihr ganzes weiteres Leben radikal verändert und unumkehrbare Folgen mit sich bringt. Es kann gleichwohl „Einzelfälle“ geben, so sagt man, gemeint sind einzelne Kinder bzw. Jugendliche, die schon in diesem Alter Entscheidungen von solcher Tragweite, irreversibel, treffen können. Ihnen die Last des quälenden Wartens und der psychischen Last abzunehmen – auch das ist in einem Gesetz zu berücksichtigen. Aber es ist schwer Entscheidungskompetenz in menschlichen Grenzerfahrungen und ihren Folgen altersmäßig zu normieren.
Hier verweise ich etwa auf die Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Alexander Korte (Universität München) in der Anhörung, der schreibt:
„Mit großer Sorge und tief bestürzt blickt der Sachverständige auf die wachsende Zahl von – körperlich gesunden – jugendlichen Mädchen mit pubertätstypischen Altersrollenkonflikten und/oder Körperbildstörungen (d.h. Schwierigkeiten in der Akzeptanz des sich reifebedingt verändernden Körpers und der Ich-Integration von Sexualität), denen bereits im Alter von 14, 15, 16 Jahren nicht nur die Brüste amputiert, sondern auch Gebärmutter und Eierstöcke entfernt werden.“
Mit diesem „Selbstbestimmungsgesetz“ sollen zukünftig alle Menschen ab 14 Jahren ihren Geschlechtseintrag selbständig durch bloße verbale Erklärung ändern können und das völlig unabhängig von ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen und der zugrunde liegenden gesellschaftlichen, rechtlichen und medizinischen Bedeutung des biologischen Geschlechts.

Fragen:
Dies führt auch zu Fragen auf die es bisher keine befriedigenden Antworten gibt: Wenn das gefühlte Geschlecht das biologische Geschlecht verdrängt, werden dann Nachteile, die Frauen aufgrund ihres biologischen und daraus zugeschriebenen sozialen Geschlechts haben, vernachlässigt? Für Frauenrechte wurde national und international von Generationen von Frauen und Männern hart gekämpft. Sie stehen angesichts des international zu beobachtenden Rollbacks in der Gleichstellung ohnehin stark unter Beschuss.
Aus der Selbsterklärung ergeben sich für mich weitere Fragen, die ich nicht als trivial bezeichne: Wo tritt ein biologischer Mann, der sich als Frau fühlt, bei Sportwettbewerben an? In welchem Gefängnis sitzt sie ihre Strafe ab? Können Quotenplätze in Wirtschaft und Politik von ihr eingenommen werden? Kann sie Schutzräume, die für Frauen im bio-logischen und sozialen Sinn vorgesehen sind, nutzen?

Antwort
Und doch dürfen wir nicht darauf warten, auf all solche Fragen eine Antwort zu erhalten, bevor wir die Diskriminierung gesetzlich beenden. Die letzten Antworten liegen in der Unschärfe der subjektiven Entscheidung. Diesen Entscheidungsraum sollte ein Gesetz aufspannen. Dafür bilden die Überlegungen der SPD Fraktion eine gute Grundlage.

Lothar Binding