Ein Beitrag zur Erneuerungsdiskussion.

Liebe Genossinnen und Genossen,

wir, die SPD, sind in der schwierigsten Situation unserer jüngeren Geschichte.

Es geht um das Leben, das Lebensgefühl in unserer Gesellschaft und deshalb geht es auch um unsere Existenz als linke Volkspartei mit Mehrheitsfähigkeit, es geht auch um den Charakter der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer freiheitlichen, demokratischen, sozialen und rechtstaatlichen Ausprägung und es geht schließlich um die Zukunft der gesamten EU als supranationalem Verbund. Die Berliner Republik ist nicht Weimar – aber die gegenwärtigen SPD-Wahlergebnisse sind denen der späten 20er und frühen 30er Jahre erschreckend ähnlich. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, sollten wir uns diese historische Dimension bewusst machen.

Die Idee des demokratischen Sozialismus bleibt „eine ständige Aufgabe“ (Godesberger Programm). Mit Blick auf die hohe Dynamik gesellschaftlicher Änderungsprozesse erfordert diese Aufgabe große Beweglichkeit – auch von einer traditionsbewussten Volkspartei. Von uns. Das bedeutet:

  1. Alleinstellungsmerkmal: Wir sind die deutsche Europapartei
  2. Gerechtigkeit und Chancen stehen im Mittelpunkt
  3. Schluss mit der Haltung: „Ja, aber…“
  4. Zuwanderung ist nicht das wichtigste Thema
  5. Mit Martin Luther „Dem Volks auf’s Maul schauen“
  6. Die Geschichte zeigt: Der Feind steht rechts
  7. Kein Ultimatum der Koalitionspartner mehr hinnehmen
  8. Nach Links: Möglichkeiten eröffnen
  9. Weiter mehr Demokratie wagen

1. Alleinstellungsmerkmal: Wir sind die deutsche Europapartei
„Europa ist für Deutschland das wichtigste nationale Anliegen.“ Olaf Scholz hat damit auf den Punkt gebracht, was unsere Partei seit über 150 Jahren repräsentiert. Dieses sozialdemokratische Alleinstellungsmerkmal müssen wir aber auch offensiv im Alltag vertreten. Am Wahltag werden die Bürgerinnen und Bürger nur dann entscheiden – wählen – können, wenn sie zu unterscheiden wissen. Das setzt Unterscheidbarkeit, Profil und eine klare Position voraus. Der Koalitionsvertrag beginnt erfreulicherweise mit dem Kapitel „Europa neuen Schwung geben“. Dazu ist von uns bisher leider nichts geschehen, was den Reformvorschlägen des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron angemessen wäre.

2. Schluss mit der „Ja, aber…“-Haltung
Unsere Politik soll das Leben der Menschen verbessern. Je schwieriger die Lebenslage, umso größer unsere politische Aufgabe. Dazu ist zum einen Selbstbewusstsein erforderlich. Wir müssen das von uns Erreichte kennen und benennen: Mindestlohn, Rente, Gleichstellung, Kommunalfinanzen und vieles mehr. Statt der weit verbreiteten (sozialdemokratischen) „Ja, aber“-Haltung muss es ein klares „Ja, deshalb“ geben. Wir haben in den letzten Jahren unsere Erfolge oft so verzagt oder übertrieben kommuniziert, dass wir sie relativiert oder faktisch dementiert haben.
Auf der anderen Seite ist auch Selbstkritik erforderlich: Was in einer Phase scharfer Rezession – „kranker Mann Europas“ – als Notoperation erklärbar war, hätte in der nun schon lang anhaltenden Hochkonjunkturphase längst wieder geändert werden müssen. Die Absenkung der Arbeitslosenhilfe ALG II auf Sozialhilfeniveau, beschädigte den Wert und die Würde der Arbeit (Hartz IV). Mit der doppelten Verbeitragung der betrieblichen Altersvorsorge zur Stabilisierung der Krankenversicherung wurde rückwirkend in Lebensentscheidungen (Verträge) eingegriffen. Auch hier wäre es längst möglich gewesen, dies wieder zu ändern.

3. Gerechtigkeit und Chancen sind der Mittelpunkt
Als wichtige Herausforderung für die SPD benennt Hans-Jochen Vogel „die ständige Erweiterung der sozialen Kluft zwischen Arm und Reich auf der globalen, der europäischen und der nationalen Ebene.“ Der sozialdemokratische Traum vom Aufstieg durch Bildung (und Arbeit) muss wieder eine realistische Chance für viele sein. Die Kluft zwischen „oben und unten“, zwischen „reich und arm“, kann nur durch staatliche Aktivitäten – also durch Ordnungspolitik in Deutschland und in der EU – verkleinert werden.

4. Zuwanderung ist nicht das wichtigste Thema
Sagen wir endlich diesen Satz – er könnte befreiend wirken. Joachim Gaucks „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt“ und Andrea Nahles‘ „Realismus ohne Ressentiments“ haben den wichtigen und richtigen Rahmen dafür abgesteckt. Sätze wie: „Die Flüchtlinge kriegen alles, wir Deutschen nichts“ sind Lügen. Aber die Mischung von Ängsten, Vorurteilen und Falschmeldungen (Fake News) haben die Wahrnehmung der Realität in Deutschland und Europa stark verändert. Wir brauchen klare Worte und klare Zeichen: Kosten und Nutzen der Migration müssen transparent sein. Kein Gegeneinander einzelner Bevölkerungsgruppen, sondern Einsatz für sozialdemokratische Grundwerte für alle in Deutschland lebenden Menschen.

5. Mit Martin Luther „Dem Volk auf’s Maul schauen“
Einfach konkret, statt bürokratisch verquer: wir erreichen viele unserer Wählerinnen und Wähler nicht mehr, weil wir verlernt haben, verständliche Begriffe zu verwenden. Beispiel: „subsidiär Schutzberechtigte“ sind „Menschen in Not.“ Wir müssen uns um positive und klare Botschaften bemühen, um den negativen Botschaften unserer Gegner („Flüchtlingsschwemme“ und „Asyltourismus“) etwas entgegen zu setzen. Und im Wettstreit um die Deutungshoheit dürfen wir prägende Begriffe wie „Heimat“ (Ernst Bloch – „Prinzip Hoffnung“) nicht anderen überlassen.

6. Die Geschichte zeigt: Der Feind steht rechts
Diese Worte Philipp Scheidemanns aus dem Jahre 1918 richten sich auch heute gegen diejenigen, welche eine andere Republik und nicht nur eine andere Politik wollen. Das beginnt bei der AfD und geht über PEGIDA bis hin zur Identitären Bewegung, Reichsbürgern etc. Die Geisteshaltung des Nationalismus ist bestimmt von Fremdenfeindlichkeit und der Illusion, dass alles wieder so wird, wie es früher (niemals) war. Am Ende steht ein autoritärer Staat, vielleicht sogar Krieg. Wir müssen dagegen stehen: an jedem Tag, an jedem Ort, jeder Hassparole und jeder Lüge widersprechen. Demokratinnen und Demokraten dürfen nicht so oft schweigen wie bisher. Das ist die eine Seite – die andere: es gilt, endlich die Vormachtstellung rechter Trolle in den neuen Medien zu durchbrechen.

7. Kein Ultimatum des Koalitionspartners mehr hinnehmen
Die Auseinandersetzung um Seehofers „Masterplan Migration“ war ein Lehrstück. Unsere Strategie der Nichteinmischung in CDU/CSU-Streitigkeiten schien im Ansatz richtig, war aber im Ergebnis falsch: Die SPD hat in den Umfragen nichts hinzugewonnen, weil sie sich nicht offensiv genug positioniert hat. Als die CSU mit einem Bruch der Koalition drohte, hätten wir den Erhalt der Koalition dagegensetzen müssen, indem wir die Flüchtlingsbeschlüsse des EU-Gipfels, denen die Bundeskanzlerin zugestimmt hat, im Bundestag zur namentlichen Abstimmung gestellt hätten. Wer hätte uns daran hindern sollen? Jede/r einzelne Abgeordnete/r muss sich für oder gegen diese Koalition entscheiden.

8. Nach Links: Möglichkeiten eröffnen
Die Entwicklung unserer Partei kann nur nach links gehen. Eine Anpassung an den rechten Mainstream wäre falsch und würde uns schwächen. Die klassische Juso-Doppelstrategie bedeutet für die aktuelle Situation: auf den Koalitionsvertrag bauen und zugleich Alternativen nicht verbauen. Rot-rot-grün ist eine Perspektive, wenn wir sie wollen. Rückblickend betrachtet haben wir alle gemeinsam 2005 wie 2013 die Machbarkeit dieser Möglichkeit nicht ausgelotet. Im Frühjahr 2017 wurden vor den Landtagswahlen die guten rot-rot-grünen Ansätze eines Trialogs mit 150 Abgeordneten aus den drei Fraktionen vorschnell abgebrochen. Zur Erinnerung: bei Wahlen sind wir im letzten Jahrzehnt mit SPD plus Grüne und Linkspartei immer auf eine Marge zwischen 40 und 50 Prozent gekommen. Auch heute liegt dieser Wert bei Umfragen stabil im 40er Bereich.

9. Weiter mehr Demokratie wagen
Der Weg ist immer auch das Ziel. Deshalb sollten wir das Instrument der Mitgliederbeteiligung bei der Entscheidung über die Spitzenkandidatur zur Europawahl wieder nutzen. Besser noch: ähnlich der Urwahl in der italienischen und französischen Sozialdemokratie könnten sich auch interessierte Bürgerinnen und Bürger, sofern sie keiner anderen Partei angehören, an dem Votum beteiligen. Ein solches Vorgehen würde zu einer verstärkten Mobilisierung und größerem öffentlichen Interesse beitragen.

Schlussbemerkung
Zur Neuaufstellung unserer SPD hat es schon wichtige Vorschläge gegeben. 2019 wird Bilanz gezogen, ein entscheidendes Datum wird der Tag der Europawahl sein. Diese muss viel ernster genommen werden, als dies bisher innerparteilich der Fall ist.

Die Rechtspopulisten in der EU, die weit in die christdemokratische Parteienlandschaft hineinreichen, werden die Europawahl zu einer nationalistischen Kampagne gegen Zuwanderung machen. Ministerpräsident Orban, Chef der ungarischen CDU, hat dies bereits für sich angekündigt. Der 26. Mai 2019 darf nicht zur ersten Wahl werden, bei der Rechtsaußen von AfD über PiS, FPÖ und Lega bis zum FN mehrheitsfähig werden und Europa als Gemeinschaft zerstören.

Wir haben eine Chance: die Zustimmung für die EU ist heute so hoch wie zuletzt 1983!

Und warum schreiben wir Euch? Der Anlass sind die politischen Verhältnisse, der Hintergrund, dass wir beide auf mehr als 50 Jahre Parteiarbeit zurück blicken.

Mit solidarischen Grüßen
Lothar Binding und Axel Schäfer