Plenum, 15. Oktober 2003

Deutscher Bundestag ? 15. Wahlperiode ? 65. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 15. Oktober 2003

Herr Präsident!

Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte, bevor ich zu den Inhalten komme, etwas zur Diskussionskultur und im Grunde genommen auch zur Beliebigkeit der gewählten Argumente sagen. Es gab einen Zwischenruf von Herrn Kampeter, der lautete: Das glaubt hier ja keiner mehr! ? In einem von ihm mitformulierten Antrag findet man die Wörter Vorhersehbarkeit, Wahrheit, Klarheit, Vollständigkeit. An einem ganz kleinen Beispiel will ich deutlich machen, was er darunter versteht: Er hat ja vorhin gesagt, Herr Eichel spreche zurzeit in ?Phoenix? vor Lobbyisten. Einmal abgesehen davon, ob das stimmt, halte ich es für eine starke Leistung, wenn ein Minister in der Öffentlichkeit seine Lobbygespräche führt. Das gefällt mir jedenfalls besser, als wenn er es hinter verschlossenen Türen täte, um dann entsprechende Anträge zu lancieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des

BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ? Steffen

Kampeter [CDU/CSU]: Das Parlament ist hier! ? Weitere Zurufe von der CDU/CSU)? Da kann man gut einen Zwischenruf machen. Ich höredas gerne.

Die Wahrheit ist aber, dass Eichel nicht bei ?Phoenix? vor Lobbyisten spricht, sondern dass der Kanzler mit Kolleginnen und Kollegen auf einer IG Metall-Konferenz ist, die von ?Phoenix? übertragen wird.

Sie sehen an diesem kleinen Beispiel deutlich, wie hiermit Wahrheit umgegangen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ? Zuruf von der CDU/CSU: Und mit dem Parlament! ?Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine Unverschämtheit!)

Jetzt komme ich zu dem ersten Argument, dem wichtigsten von denen, die Herr Austermann eingangs formuliert hat. Er sprach von schonungsloser Aufklärung. Sein nächster Satz lautete: Wir haben einen absoluten Nachkriegsrekord bei der Nettokreditaufnahme.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Richtig!)

Das könnte, oberflächlich betrachtet, wahr sein. Wenn man aber noch einmal genauer hinschaut, stellt man fest, dass das nicht unbedingt wahr ist. Was sagt denn eigentlich die Nettokreditaufnahme aus, wenn man sie nicht ins Verhältnis zur Gesamtleistung des Volkes setzt?

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ist also alles gar nicht so schlimm? ? Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Schönredner!)

Wir müssen also die Neuverschuldung stets im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sehen. Sie erinnern sich hoffentlich besser als in Bezug auf das, was ?Phoenix? überträgt, daran, dass 1996 das Verhältnis Neuverschuldung zu Bruttoinlandsprodukt 2,2 Prozent betrug, 1993, in einer absolut starken Wachstumsphase, 2 Prozent, seit 1999 übrigens 1,3 Prozent und heute wieder ? man höre und staune ? bei 2 Prozent liegt,

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Also garnichts Besonderes?)

also durchaus in einer Bandbreite, wie Sie sie vorgegeben haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Da gab es aberSpielraum!)

? Ja, es gibt heute weniger Spielraum, da haben Sie Recht: Ihre Regierung konnte in einer absoluten Wachstumsphase handeln, während wir es heute mit einer weltweiten Wachstumsschwäche zu tun haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ? SteffenKampeter [CDU/CSU]: Werfen Sie uns jetzt Wirtschaftswachstum vor?)

Wenn Sie die Nettokreditaufnahme und die Gesamtausgaben vergleichen, werden Sie sehen, dass das Verhältnis heute deutlich besser ist als in vielen Jahren unter Kohl.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was reden Sie für einen Quatsch! ? Heinz Seiffert [CDU/CSU]:Wirklich wahr!)

Jetzt komme ich zu der Summe von 40 Milliarden Euro Neuverschuldung. Damit hatten wir nicht gerechnet; dennwir hätten nicht gedacht, dass die CDU/CSU die Finanzierung dieses Staates in einer so verantwortungslosen Weise untergräbt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ? Lachen bei der CDU/CSUund der FDP)

Das lässt sich mit drei einfachen Zahlen ganz leicht belegen: Wir haben ein Steuervergünstigungs-, also Schlupflochabbaugesetz und ein Gesetz zum Subventionsabbau vorgelegt, die Sie ziemlich rundheraus abgelehnt haben.

(Otto Fricke [FDP]: Sie im Bundesrat doch auch! ? Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das war eine gemeinsame Beschlussfassung!)

Das hat den Bund über 6 Milliarden Euro, die Länder über 6 Milliarden Euro und die Kommunen fast 3 Milliarden Euro gekostet, was in den Kommunen heute dramatische Folgeprobleme aufwirft. Deshalb denke ich, dass es sehr viel geschickter gewesen wäre, wenn Sie uns nicht beschimpft, sondern sich mit uns gemeinsamum die Finanzierung gekümmert hätten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN ? Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das haben wir gemeinsam beschlossen!)

Besonders merkwürdig fand ich die Einlassung von Herrn Austermann zum Stichwort ?Versicherungen? und die Behauptung, dass wir sozusagen Politik auf Zuruf der Lobbyisten machten.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt!)

Sie kennen sicher die auch von Ihnen im Vermittlungsausschuss mitgezeichnete Protokollerklärung der Bundesregierung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz

sehr gut.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir zeichnen keine Protokollerklärung der Bundesregierung!)

Schon dort war angekündigt, dass genau dieser Komplex noch einmal hinterfragt werden solle. Die Sache ist ganz einfach erklärt: Bei Lebensversicherungen hat der Kunde eine Auszahlungsgarantie von 90 Prozent der Gewinne.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Erklären Sie das besser Ihrer Fraktion! Die hatte eine Sondersitzungdeswegen!)

Bei Krankenversicherungen liegt die Auszahlungsgarantie bei 80 Prozent. Das ist eine Mindestrendite. Das bedeutet, wenn die Aktienkurse der Versicherung steigen, dann erhalten die Kunden eine entsprechend hohe Ausschüttung. Nach der hohen Ausschüttung, die dem Kunden zugute kommt, hat die Versicherung niedrige Steuern.Wenn aber die Börsenwerte fallen und die Ausschüttung niedrig ist, sind die Steuern plötzlich extrem hoch.

(Otto Fricke [FDP]: Der Aktienkurs hat nichts mit der Ausschüttung zu tun!)

Daran erkennt man sofort, warum es extrem wichtig ist, die Versicherungen anders zu behandeln als eine normale Aktiengesellschaft, die über die Kumulation ihrer Gewinne und die Höhe der Ausschüttung selbst entscheiden kann.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer hat denn dieses Verfahren eingeführt? ? Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bar jeder Sachkenntnis!)

Ein letzter Satz: Was schlägt die CDU/CSU eigentlich vor? Sie verlangt einen Nachtragshaushalt, schnell und sorgfältig ausgearbeitet. Jeder weiß, dass die gesamtwirtschaftliche Entwicklung nächste Woche neu betrachtet wird. Genau das wird die Basis für den Nachtragshaushaltsein.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dann würde ich den Haushalt 2004 sofort zurückziehen!)

Es kommt aber noch schlimmer.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege ? ?

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Noch einen letzten Satz. ?

(Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Der Mann muss ausreden!)

Sie haben auch einen inhaltlichen Vorschlag gemacht, nämlich eine Ausgabensperre zu verhängen. Sie wissen genau, dass eine Ausgabensperre die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verstärken würde.

Dieser Vorschlag ist für uns nicht akzeptabel.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Keine neokeynesianischen Theorien, bitte!)

Deshalb fordere ich Sie auf, das Haushaltsbegleitgesetz mitzutragen; denn das ist eine vernünftige Basis für eine solide Haushaltsführung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist vielleicht nahe liegend, aber nicht zwingend nötig, dass bei einer Debatte über die bislang höchste Neuverschuldung in einem Jahr auch der Lärmpegel das bisher höchste Niveauerreicht.

(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg][SPD])

Der Verständigung untereinander dient es, wenn abwechselnd gesprochen wird, denn dann bekommt man eher etwas von den Argumenten mit, die jeweils vorgetragen werden, seien sie nun mehr oder weniger überzeugend.

(Zuruf von der SPD: Sagen Sie das Herrn Kampeter!)