Plenum, 3.12.02
Auszug aus dem Stenografischen Bericht des Deutschen Bundestages.
12. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 3.12.2002 – Steuerpolitische Vorschläge der SPD Fraktion
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich habe heute alle Debattenredner gehört und möchte deshalb eingangs etwas zur Form der Urteilsbildung und zu den Ankündigungen der Opposition sagen, dass man hier und da ? Herr Meister hat eben einige Vorschläge angedeutet ? recht gut zusammenarbeiten könnte, wenn die Regierung nur wollte.
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja!)
Ich glaube aber, dass die Form der Urteilsbildung und der unseres Umgangs miteinander definiert, ob so etwas möglich ist. Ich nenne ein Beispiel: Wenn jemand sagt, da habe sich jemand geirrt, meine ich, dass das in Ordnung ist. Auch dass sich jemand getäuscht habe, darf man sagen. Auch dass jemand nicht alle Hoffnungen und Befürchtungen formuliert hat, darf gesagt werden. Darf man aber, weil jemand einen vielleicht klugen, vielleicht auch weniger klugen Vorschlag gemacht hat, wie Frau Merkel sagen, er habe perverse Auffassungen? Das wurde nicht von irgendjemandem am Stammtisch nach dem fünften Bier gesagt, sondern es ist heute im ?Tagesspiegel? zu lesen. Dort war auch etwas von Wahnvorstellungen zu lesen. Darf man das sagen und damit eine Basis zerstören, auf der Sie eben noch ein Gesprächsangebot gemacht haben?
(Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja, wenn es doch stimmt, Herr Binding!)
Sehen Sie, Sie verstärken genau diese Ebene der Auseinandersetzung noch. Exakt das ist das Übel.
(Beifall bei der SPD)
Jemand hat von einem ?Amoklauf? gesprochen oder was ich noch schlimmer fand ? von einem Aufruf zum Widerstand. Das klingt zwar modern, aber das Lahmlegen von Finanzämtern bedeutet etwas anderes. Das ist die implizierte Legalisierung und Belohnung im Urteil derjenigen, die gar keine Steuern mehr zahlen. Das hat auch eine Gerechtigkeitskomponente: Wenn niemand mehr Steuern zahlt, haben tatsächlich alle das Gleiche gezahlt. Das stimmt. Damit verhält es sich ähnlich wie mit der FDP-Idee, wenn jeder an sich selber denke, sei auch an jeden gedacht. Damit muss man aber sehr vorsichtig sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es gibt aber auch eine Aufgabe der Opposition. Diese Aufgabe besteht auf der einen Seite darin, Kritik an unseren Konzepten zu formulieren, auf der anderen Seite ist aber auch der kritische Vergleich der eigenen Konzepte mit denen der Regierung anzustreben. Das funktioniert aber nur dann, wenn man ein eigenes Konzept vorlegt. Wenn man die eine Hälfte vollständig vergisst, dann hat man seine Rolle als Opposition nicht seriös wahrgenommen.
(Beifall bei der SPD)
Ich meine sogar, dass es noch schlimmer ist. Das Fehlen eines eigenen Konzepts, kombiniert mit den eben erwähnten Zitaten ?perverse Auffassungen?, ?Wahnvorstellungen? und ?Amoklauf? ? vorhin sprach sogar jemand, es war wohl Herr Austermann, in einem Zwischenruf von ?Steuerterror?,
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jawohl!)
und das angesichts dessen, wie das Wort ?Terror? gerade zurzeit belegt ist ?, zeigt, dass die Opposition Urteile fällt, die sie früher oder später in ihrer Aufgabe der Wahrung der Demokratie selber einholen.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie ist das mit der Kakophonie?)
Das ist eine große Gefahr.
(Beifall bei der SPD ? Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben ehemalige Steinewerfer in Ihrer Regierung! Was sagen Sie zu Ihren Steinewerfern? ? Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Ramsauer mit seinen Zwischenrufen!)
Es gibt aber auch Wahrnehmungsunterschiede. Ich zitiere noch einmal Herrn Austermann. Er hat behauptet, 1998 sei die Arbeitslosigkeit gesunken ? wenn ich mich richtig erinnere, lag die Zahl der Arbeitslosen damals trotz ABM bei 4,8 Millionen ? und das Wachstum habe bei 3 Prozent gelegen.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wahrnehmungsprobleme!)
Es geht nicht um Wahrnehmungsprobleme, sondern um die Statistik. ? Wenn ich mich nicht täusche, dann sind 3 Prozent mehr als 2 Prozent. Das Wachstum lag damals bei 2 Prozent. Sie behaupten aber, dass es 3 Prozent gewesen seien. Wenn ich Ihr Urteil reflexiv auf Sie anwende, dürfte ich dann das Wort ?Lüge? benutzen? Denn Sie haben ja gerade in der jetzigen Debatte behauptet, das Wachstum habe 1998 bei 3 Prozent gelegen. Es waren aber, wie gesagt, nur 2 Prozent. Das war wahrscheinlich nur ein ?Wahrnehmungsunterschied?. Sie haben des Weiteren sinngemäß gesagt, die Sozialkassen seien damals übervoll gewesen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann hatten wir damals Probleme mit der Rentenversicherung, der Krankenversicherung, der Arbeitslosigkeit und der Staatsverschuldung.
(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Schauen
Sie sich die Statistik von 1999 an! Die Statistik ist geändert worden!)
Das sind vier ?kleinere? Probleme, die wir zwar noch nicht gelöst haben. Aber wir haben uns auf den Weg gemacht, sie zu lösen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben aber auch ein Definitionsproblem. Das beginnt aus meiner Sicht beim Begriff des Mittelstandes. Wenn die Kollegen von der CDU/CSU das Wort ?Mittelstand? benutzen, dann klingt das immer so, als ob sie den Handwerker um die Ecke oder den Unternehmer, der vielleicht fünf oder zehn Angestellte hat, meinten. Die volkswirtschaftliche
Definition geht aber davon aus, dass all diejenigen Unternehmen zum Mittelstand gehören, die einen Umsatz von bis zu 50 Millionen Euro und bis zu 500 Mitarbeiter haben. Das ist die erste Definition. Die zweite geht von den Personengesellschaften aus. Je nachdem, in welchem Kontext Sie über den Mittelstand diskutieren, benutzen Sie wahlweise einmal den einen und einmal den anderen Begriff. Das kann man leicht erkennen. Sie behaupten, wir hätten nicht dem Mittelstand, sondern nur den Aktiengesellschaften und den GmbHs geholfen. Sie vergessen dabei natürlich, die mittelständischen GmbHs zu erwähnen; denn deren Steuerbelastung haben wir auf 25 Prozent ? das ist der Körperschaftsteuersatz ? gesenkt. Das ist eine wunderbare Sache. Deshalb haben wir auch diesem Teil des Mittelstandes geholfen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass wir der anderen Mittelstandskomponente, den Personengesellschaften, nicht geholfen hätten. Den Personengesellschaften haben wir in der Tat nicht durch Steuersenkungen helfen können; denn diese zahlen überhaupt keine Steuern. Der Gewinn einer Personengesellschaft ? das ist vielleicht nicht so bekannt ? wird nicht besteuert, sondern ? wie durch ein Wunder ? dem Einkommen des Anteilseigners zugerechnet und als Einkommen versteuert. Die Einkommensteuer haben wir definitiv gesenkt. Deshalb haben wir auch den kleinen und mittleren Betrieben des Mittelstandes, die in der Rechtsform der Personengesellschaft organisiert sind, in erheblichem Maße geholfen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es ist also wichtig, die unterschiedlichen Definitionen von ?Mittelstand? auseinander zu halten; denn nur dann kann man den Wahrheitsgehalt einer Aussage überprüfen.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr gut!)
Wir haben mit Sicherheit aber auch ein Problem mit dem Begriff der Subvention. Ein Kollege sagte vorhin, wenn er für Subventionsabbau plädiere, dann habe er 120 Prozent Zustimmung. Wenn aber jemand einen konkreten Vorschlag zum Subventionsabbau macht, dann wird sich derjenige ? das wird niemanden hier verwundern ? gegen den Abbau der Subvention wehren, der von der Subvention bisher profitiert hat. Deshalb bekommen wir entsprechende Briefe. Ich finde es auch in Ordnung, dass sich diejenigen beschweren, denen man die Subvention streicht. Diese vergessen aber, dass jede Subvention, die ein Einzelner, eine Gruppe oder eine Branche erhält, von allen Steuerzahlern finanziert werden muss. Natürlich vermissen wir die Dankesbriefe der Steuerzahler, wenn wir Subventionen streichen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch die Senkung der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer muss von allen Steuerzahlern finanziert werden, also auch von denjenigen, die jetzt auf Subventionen verzichten müssen.
Herr Meister, unser Ansatz ist, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, die steuerlichen Ausnahmen ? Jörg-Otto Spiller hat ja alle aufgezählt ? zu beseitigen und die Steuersätze zu senken. Wenn Sie sich richtig erinnern, dann müssen Sie zugeben, dass wir das auch erreicht haben; denn 25,9 Prozent Einkommensteuersatz sind mehr als 15 Prozent. Momentan sind es 19 Prozent, ungerade. Auch nach Ihrer Rechnung dürften 40 Prozent mehr sein als 25 Prozent. Sie sehen also, dass die Steuersätze gesenkt wurden und dass die Bemessungsgrundlage verbreitert wurde. Das entspricht Ihrem Kompromissvorschlag. Er steht aber schon im Gesetz. Das gilt auch für 2004 und 2005. Insofern ist das, was Sie vorschlagen, leider kein neues Konzept. Das hätten wir gerne gehabt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man muss aber zugeben: Spurenelemente eines eigenen Konzepts hat heute Herr Merz vorgetragen. Er hat zu Herrn Eichel hinübergesehen und gesagt: Ich mache Ihnen den Vorschlag … ? das korrigierte er gleich ?, ich mache Ihnen das Angebot, noch vor Jahresende über das Scheinselbstständigengesetz zu sprechen. Anschließend kamen noch vier Aspekte und er fasste zusammen: Ich mache Ihnen den Vorschlag, darüber zu reden, eine intelligente Lösung bei der Flexibilisierung zu finden. Als ob für unsere Probleme das einzig mögliche Konzept sei, darüber zu reden, die Flexibilisierung zu verbessern.
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ein wichtiges!)
Als konkretes Beispiel nannte er den Kündigungsschutz. Was bedeutet es jedoch im Ergebnis, Ihren Begriff ?Kündigungsschutz? mit Flexibilisierung zu kombinieren? ? Das bedeutet Abschaffung des Kündigungsschutzes. Dann soll man das auch so benennen.
(Beifall bei der SPD ? Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Witzbold!)
Im Rückblick und wenn man über Konsequenzen nachdenkt, die man heute als Spätfolgen einer Politik, die vor unserer Zeit liegt, zu ziehen hat, möchte ich auf Folgendes hinweisen: In den 80er- und 90er-Jahren gab es Flexibilisierung und keine Ökosteuer. Wir hatten weltwirtschaftliches Wachstum. Die Inflationsrate war erträglich. Wir hatten mit den Fördergebietsgesetzen ein Wahnsinnsprogramm. Die Gewinnsteuern konnten ohne Ende weggestaltet werden. Was ist in all dieser wunderschönen Landschaft passiert? ? Die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung sind gestiegen. Das aufzuräumen ist heute unsere Aufgabe. Ich meine, ausgehend von dieser schwierigen Basis haben wir schon einiges geleistet.
(Beifall bei der SPD)
Jetzt komme ich auf einzelne Punkte zu sprechen, die, wenn man Ihr Vokabular benutzen würde, vielleicht sozusagen zum Grenzfall der Lüge hin definiert werden könnten. Aber ich sage einmal: Das waren Irrtümer und vielleicht mangelnder Sachverstand. Der Kollege Merz sagte heute, es habe ein Körperschaftsteuergeschenk gegeben.
Die versteuerten Unternehmensgewinne seien im Nachhinein entlastet worden in der Annahme, dass die EK 45 und die EK 40 auf 25 Prozent heruntergezogen würden. Das entspricht aber nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist: EK 45 und EK 40 gingen nur auf 30 Prozent zurück. Deshalb hat Herr Merz an dieser Stelle ? ich möchte es vornehm sagen ? nicht die Wahrheit erreicht.
(Joachim Poß [SPD]: Der wusste das nicht besser! Er hat nämlich keine Ahnung!)
? Das ist natürlich möglich. Wenn einer etwas nicht weiß, werfe ich es ihm nicht vor. Deshalb habe ich gesagt: ?Die Wahrheit nicht erreicht.? Dann bin ich auf der sicheren Seite.
(Beifall bei der SPD)
Dabei hat er vergessen, dass wir die Verlustvorträge, die damals entstanden sind, in der letzten Legislaturperiode verkraften mussten. Für die Zuschauer im Saal sage ich: Erstwir haben damit aufgehört, dass nicht wie früher die Körperschaftsteuer dem Staat nur geborgt wurde. Wenn eine Aktiengesellschaft eine Körperschaftsteuer in den Steuertopf von Waigel gegeben hat, dann hat er diese ausgegeben und ein paar Schulden gemacht. Hans Eichel musste die Körperschaftsteuer einige Jahre später an die Anteilseigner wieder auszahlen. Es war also eine geliehene Steuer. Das ist heute nicht mehr so. Das ist eine ganz wichtige Sache.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme nun auf ein schönes, aber falsches Bild zu sprechen. ?Beton statt Bildung? war ein wunderbares Motto. Artikel 104 a des Grundgesetzes bezieht sich auf investive Mittel. Das bedeutet eben nicht nur Beton ? das ist auch ein Wahrnehmungsunterschied ?, sondern das sind die Mittel für Bibliotheken und deren Einrichtungen, sodass man sich vielleicht, wenn man den Begriff ?Beton? weit genug fasst, vorstellen muss, dass künftige Bücher von Merz aus Beton sind.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es wurde auch gesagt, die Steuerbelastung habe den Höchststand erreicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Steuerquote nach dem Urteil des Sachverständigenrates so niedrig ist wie seit elf Jahren nicht mehr und die Abgabenquote ? ich nenne aus der Tabelle ein unverdächtiges Datum ? 1987 bei 38,8 Prozent lag. Heute liegt sie bei 38,5 Prozent. Nach meiner Einschätzung ist 38,8 Prozent mehr als 38,5 Prozent.
(Beifall bei der SPD)
Ein weiteres unverdächtiges Datum ist das Jahr 1995.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, bevor Sie sich ganz in die Tabellen vertiefen, möchte ich Sie an Ihre Redezeit erinnern, die bereits überschritten ist.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD):
Dann sage ich nur noch die eine Zahl, aber nur um herauszufinden, ob ich richtig, also näher bei der Wahrheit, liege. 1995 lag die Abgabenquote bei 41,2 Prozent. Das ist meines Wissens auch mehr als 38,5 Prozent. Mit Blick auf diese beiden Korrekturen der Ausführungen von Herrn Merz, die man durchaus bei den Mittelstandsdarlehen hätte fortsetzen können, möchte ich schließen und Sie, Herr Meister, bitten: Machen Sie Ernst mit Ihrem Angebot einer neuen Sprache, einer neuen Moral, einer neuen ethischen Grundlage in der Finanzpolitik. Dann kommen wir gut zusammen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)