Marianne Birthler: der Trend, die DDR zu verharmlosen und zu verklären ist noch immer weit verbreitet.
Der Hilde Domin Saal in der Stadtbücherei war gut gefüllt. Zeitweise konnte man eine Stecknadel fallen hören. Auch viele Betroffene waren gekommen und als Zeitzeugen konnten sie zur Diskussion um die Stasivergangenheit der DDR beitragen. „Das Interesse von Bürgern auf persönliche Akteneinsicht bei der Stasiunterlagenbehörde ist deutlich gestiegen“, so Marianne Birthler zu Lothar Binding, der die Chefin der Behörde zu seiner Veranstaltung „Aus der Nähe“ eingeladen hatte.
Zunächst wurde die Kindheit und Jugendzeit Birthlers thematisiert. 1948 in Ost-Berlin geboren, ist sie sich schon früh der Unfreiheit ihrer Umgebung bewusst, entwickelt aber gleichzeitig auch eine Wertschätzung für den „zentralen Begriff Freiheit“, der ihr in ihrem familiären Umfeld vermittelt wird. Politisch engagierte sich Marianne Birthler dann in kirchlichen Oppositionsgruppen, deren Mitglieder sich der staatlichen Beobachtung sehr wohl bewusst waren. Die Stasi, das „Schild und Schwert der Partei“, bildete bereits zu diesem Zeitpunkt einen Gegenpol zum freiheitlich geprägten Denken Birthlers. Dieser Gegensatz sollte sie dann auch in ihrer weiteren politischen Laufbahn begleiten. So legte sie 1992 ihren Ministerposten im Kabinett des brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe nieder, als dessen Stasivergangenheit bekannt wurde.
Nach ihrer Wahl zur Bundesbeauftragten beschrieb sie den ersten Gang ins Stasiakten-Archiv als durchaus positive Erfahrung, da ihr die historische Einmaligkeit bewusst wurde, die sich aus der Offenlegung der geheimdienstlichen Aktivitäten einer Diktatur ergab. Birthlers Bild von der DDR stellt sich somit nicht als das einer „kommoden Diktatur“ dar. Vielmehr gab sie zu bedenken, dass Bespitzelung damals keineswegs „normal“ war und dass die Stasi bei der Rekrutierung sehr wohl auf Widerstände innerhalb der Bevölkerung traf. „Wie viel Prozent der DDR Bürger waren bei der Stasi?“ Ihre spontane Frage an das Auditorium. Die Antworten liegen zwischen 2 und über dreißig Prozent. Es „waren etwa 90.000“, also weniger als 1 Prozent, nehmen die Besucher erstaunt zur Kenntnis. Somit fördere die Aufbereitung der Stasivergangenheit nicht nur schmerzhafte Erinnerungen zu Tage, sondern auch Zeugnisse von Mut, Zivilcourage und Anständigkeit.
Birthler mahnte insgesamt einen kritischen Umgang mit der Stasivergangenheit an. So hätten sich in jüngster Vergangenheit Vertreter der früheren Stasi-Führungsriege in neuen Organisationsformen „unverschämter denn je zu Wort“ gemeldet, kritisierte sie. Zahlenmäßig sei es nur eine kleine Gruppe, sie finde aber immer noch ihr Publikum. Einige seien auch in der PDS bzw. Linkspartei zu finden. Solche Leute zu öffentlichen Tagungen einzuladen, lehnte Birthler strikt ab. Sie dann als Zeitzeugen „wichtig zu machen“, finde sie vor allem für die Opfer „schwer zumutbar“.
An der lebhaften Diskussion mit dem Publikum nahmen unter anderem Pädagogikstudenten, der Historiker Prof. Hartmut Soell und der Politikwissenschaftler Prof. Klaus von Beyme teil. In einem Beitrag ging es um die Frage, wie wichtig es sei, das Verhältnis vieler Bürger der Bundesrepublik zur DDR in den 70er und 80er Jahren zu reflektieren. Oft sei die DDR einerseits positiv verklärt wahrgenommen, andererseits als Schreckgespenst dargestellt worden. Hier gäbe es noch viel aufzuarbeiten.