In den letzten Tagen gab es viel Kritik an der europäischen Impfstrategie. Dabei hat die Europäische Union viel dafür getan, eine schnelle und sichere Impfstoffentwicklung zu garantieren. Es wurden gemeinschaftlich finanzielle Unterstützungen auf den Weg gebracht, die eine Produktion in einer Größenordnung von 2 Milliarden Dosen für 450 Millionen Europäerinnen, Europäer und unsere engen Nachbarn erst ermöglicht hat. Allein im Juni 2020 wurde der deutsche Impfstoffentwickler BioNTech beim Aufbau von Produktionskapazitäten mit 100 Millionen Euro unterstützt.

Die EU hat durch die Vorfinanzierung im Umfang von 2 Milliarden Euro die Produktion von Impfstoffen in einem Volumen von 2 Milliarden Dosen erst ermöglicht (vorausgesetzt alle Impfstoffentwicklungen laufen erfolgreich). Da zu Beginn noch nicht abzusehen war, welche Impfstoffe erfolgversprechend waren, verfolgte die EU eine Strategie, bei welcher die Investition an mehreren Faktoren gemessen wurde: Erfolgsprognose (Es war nicht abzusehen, wie die Entwicklung der neuartigen RNA-Methode verläuft) Zeitfaktor, der Preis, die nachgewiesene Fähigkeit zur sicheren Massenproduktion und Verteilung sowie die bei allen neuen Medikamenten immer sehr wichtigen und komplexen Haftungs- und Logistikfragen. Zusammengefasst lässt sich sagen, die EU hat versucht, die Erfolgsrisiken zu streuen, indem sie flächendeckend einerseits in traditionell aber eher langsame und andererseits in innovative aber schnellere Methoden investiert hat. Dadurch lässt sich auch erklären, warum beispielsweise nicht nur in BioNTech (innovative schnellere Methoden), sondern auch in den französischen Hersteller Sanofi (traditionelle eher langsame Methode) investiert wurde.

Da eine häufige Kritik lautet, es seien nur deshalb weniger Dosen bei BioNTech bestellt worden, da Frankreich aus nationalem wirtschaftlichem Interesse auch bei Sanofi Dosen bestellen wollte, ist auch darauf kurz einzugehen. Sanofi ist ein sehr verlässlicher Impfstoffhersteller, der nach traditionellem Verfahren in Europa produziert. Dieses Verfahren ist etwas langsamer, aber dafür sehr sicher. Das Sanofi Produkt ist nur bedingt mit einem Impfstoff nach dem komplett neuen Verfahren von BioNTech, CureVac oder Moderna vergleichbar. Die Auswahlentscheidung für diesen Hersteller ist daher keinesfalls auf nationales Interesse Frankreichs zurückzuführen – obwohl ein solches Interesse sicher besteht, wie auch die deutsche Regierung und der Bundestag ein Interesse daran haben, deutsche Wirtschaft und Wirtschaftsstandort zu stärken

Zum Zeitpunkt der Verhandlungen mit BioNTech war leider noch nicht ersichtlich, ob dieser Impfstoff die notwendige Wirkung hätte und bereits im Jahr 2020 fertigentwickelt werden könnte. Hätten EU und Bundesrepublik Deutschland nicht frühzeitig finanzielle Unterstützung in einem Umfang von je 100 Millionen Euro und 300 Millionen Euro für BioNTech geleistet, gäbe es nicht die umfangreiche Produktionskapazität, die sie zum jetzigen Zeitpunkt schon haben. Hier zeigt sich auch die Bedeutung von jahrzehntelanger Forschung und Grundlagenforschung als Basis für kurzfristig notwendige Entwicklungen.

Einerseits zeichnet sich die Stärke der EU durch ihren Binnenmarkt aus. Wären nur einzelne Länder wie Deutschland flächendeckend gegen das Coronavirus geschützt, würde das unserer Gesellschaft und Wirtschaft nicht aus dem Tal helfen. Andererseits hat die EU als Staatenverbund eine bessere Verhandlungsposition hinsichtlich des Preises, der Lieferfristen und der Haftungsfragen. Es macht also Sinn, dass die EU einen Teil der Verhandlungen geführt hat und nicht jeder Mitgliedsstaat der EU für sich. Ich bin überzeugt davon, dass nationaler Egoismus keine Alternative bzw. Lösung ist. Die EU-Mitgliedsstaaten wollen verhindern, dass nun über die Frage, wer zuerst geimpft ist, dieselben Probleme auftauchen, die wir aus den Anfangstagen der Krise im März kennen, als einzelne Mitgliedstaaten kurzzeitig Grenzen schlossen oder gar die Lieferung von Schutzmaterialien an EU-Partner verhinderten. Da wir als EU einen gemeinsamen Binnenmarkt haben, müssen wir auch gemeinsam als Staatenbund handeln.

Es ist verständlich, dass gegenwärtig großes Augenmerk auf die Produktions-kapazitäten der Impfstoffhersteller gelegt wird. Denn hier besteht das Nadelöhr nicht bei der Zahl der Bestellungen. Mit den 100 Millionen Euro Förderung für BioNTech hat sich die EU 300 Millionen Dosen Impfstoff gesichert. Allein hiervon könnten 28 Million Deutsche geimpft werden. Konsens war aber auch, dass das Risiko gestreut werden muss, sodass die EU am Ende nicht ohne einen wirksamen Impfstoff dasteht. Ich begrüße daher den gemeinschaftlichen Weg den die EU geht.

Wir befinden uns in einem ständigen Prozess. Die Situation wird sich Schritt für Schritt bessern. Die Verhandlungen über zusätzlichen Impfstoff von BioNTech und weiteren Herstellern sind im Gange und wir sind erneut bereit, bei der Ausweitung der Produktionskapazitäten zu helfen. Neue Produktionsstätten sind nicht nur für das Volumen der Impfdosen wichtig, sondern vor allem für die Geschwindigkeit, mit der sie zur Verfügung stehen werden. Weitere Hersteller, mit denen wir Verträge haben, stehen vor der EU-Zulassung. Dafür, dass zu Beginn der Pandemie noch gar nicht damit zu rechnen war, am Ende des Jahres 2020 aussichtsreiche Impfstoffkandidaten zu haben, sind wir auf einem guten Stand. Was nicht bedeutet, dass nicht noch mehr dafür getan werden muss, die Produktionskapazitäten aussichtsreicher Impfstoffhersteller zu erhöhen und zu unterstützen. Falls alle Präparate eine Zulassung der zuständigen europäischen Behörden erhalten, hat Europa genug Impfstoff für alle 450 Millionen Europäerinnen und Europäer zur Verfügung. Nur gemeinsam kommen wir durch die Krise, davon bin ich überzeugt. Das gilt übrigens für alle Länder dieser Erde – die Pandemie ist erst überwunden, wenn sie überall überwunden ist.

Die EU-Mitglieder wollen verhindern, dass nun über die Frage, wer zuerst geimpft ist, die Probleme wieder auftauchen, die wir aus den Anfangstagen der Krise im März kennen, als einzelne Mitgliedstaaten kurzzeitig Grenzen schlossen oder gar die Lieferung von Schutzmaterialien an EU-Partner verhinderten. Es ist gut, dass es gelungen ist, in Europa einen Impfnationalismus zu verhindern.

Damit der Binnenmarkt funktioniert, muss Europa gemeinsam aus der Krise kommen. Das gilt nicht nur für den wirtschaftlichen Wiederaufbau (NextGenerationEU als Programm für ALLE EU Länder), sondern auch für die Frage der Impfungen: Die EU-Bürger sind nur dann sicher vor dem Virus, wenn alle EU-Bürger sicher vor dem Virus sind.

Eine Spaltung der EU in Länder, in denen eine Mehrheit der Bürger geimpft ist, und solche, in denen das nicht so ist, ist nicht im Sinne Deutschlands und Europas.