Was würde ich wohl von mir denken? Was würde ich von mir denken, wenn ich flüchten müsste, wenn ich meine Heimat, Deutschland, in großer Angst hektisch verlassen müsste, um einem Bombenangriff zu entkommen, um meine Frau der Folter oder unsere Kinder dem Hungertod zu entreißen? Was würde ich von mir denken, wenn ich dem Asylkompromiss, genannt „Asylpaket II“ nicht zugestimmt hätte?

Ich käme in ein Land mit einer unvorstellbaren Hilfsbereitschaft. Ehrenamt. Aber auch hauptamtlich ist die Hilfsbereitschaft in Verbänden und Verwaltungen der Städte und Dörfer groß. Hilfe, Verständnis, Empathie, Nächstenliebe, Verantwortung, Engagement – alles zusammen genommen nennen wir Willkommenskultur. Dies ist eine Kulturleistung vieler Männer und Frauen in Deutschland. Diese Kulturleistung Menschlichkeit zeigt sich auch in den Mahnungen vieler Verbände, wie des Bundesverbandes der AWO (Arbeiterwohlfahrt), der Diakonie, der Caritas, des Paritätischen Gesamtverbandes, Amnesty international, des Deutschen Instituts für Menschenrechte, das Asylpaket II im Bundestag abzulehnen. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite brennen Asylbewerberheime. Christliche Parteien, wie die CSU, sowie Teile der CDU, wollen riesige Auffanglager bzw. Transitzentren an den Außengrenzen, bevorzugt außerhalb Deutschlands. Es wird über Grenzzäune und von kulturlosen, radikalen Politikern, sogar über bewaffnete Grenzsicherung an diesen Zäunen schwadroniert. Der Vorsitzende der CSU, Herr Seehofer, fordert gar eine Obergrenze für Asylbewerber, also praktisch eine Begrenzung des Grundrechts auf Asyl. Das ist Angriff auf unsere Verfassung. Gleichzeitig fordert auch Herr Palmer, grüner Oberbürgermeister der Stadt Tübingen in Baden-Württemberg, im „Spiegel“ dazu auf, Zäune an den EU-Außengrenzen zu errichten und diese von bewaffneten Grenzbeamten kontrollieren zu lassen. Er fordert eine „klare Grenzpolitik“.

All diese primitiv-populistischen „Vorschläge“ sind nicht nötig. Ein Blick in die jüngere Geschichte hilft. Seit 1990 sind viele Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen haben Deutschland wieder verlassen und kehrten zumeist in ihre Heimat zurück. Menschen lieben ihre Heimat. Schauen wir mit Carl Zuckmayer noch einige Jahre weiter zurück:

„Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann – und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. Prost.“

Auch durch gravierende Fehler der Bundeskanzlerin sehen wir in Europa die Gefahr von Renationalisierung und Rückentwicklung. Deutschland hat unter schwarz-gelber Regierung die südlichen Länder Europas mit den vielen Flüchtlingen allein gelassen. Heute gibt in vielen anderen Ländern Europas wenig Neigung, Deutschland zu helfen.

Diese Entwicklung, gepaart mit der Berichterstattung bestimmter Medien und aufkeimenden radikalen Parteien, lässt wenig Raum für symbolische Politik. Es gibt im Bundestag keine Mehrheit in der Regierungskoalition für ein Einwanderungsgesetz, keine Mehrheit für ein Resettlement-Programm (also die Möglichkeit zur dauerhaften Neuansiedlung mit Integrationsprogramm, analog zu den USA, Kanada oder Australien), keine Mehrheit für einen Kompromiss ohne die Einschränkungen im Asylpaket II.

Mit Blick auf diese Gemengelage besteht größte Gefahr, dass jegliche weitere Verhandlung über das Asylpaket II eine Verschlechterung für die in Deutschland Schutzsuchenden bedeuten und radikale Kräfte gestärkt würden. Wir haben mit dem Kompromiss eine untere (!) Linie gefunden, die uns, die die gesamte Bevölkerung davon abhält, nach Rechts abzudriften. Deshalb unterstütze ich den gefundenen Kompromiss – mit Blick auf die drohenden, anderen Szenarien und halte ihn für einen Verhandlungserfolg.

Kritisch bleiben die Änderungen im Familiennachzug und die Vereinfachung der Abschiebung kranker Menschen. Rechtlich bedenklich sind die beschleunigten Verfahren. Kontraproduktiv finde ich die Gebühren für Integrationskurse.

Wenigstens soll es für unbegleitete Minderjährige mit „subsidiären Schutz“ eine Einzelfallprüfung beim Familiennachzug geben.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erklärt:

Auf subsidiären Schutz kann ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser Anspruch haben, dem weder durch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch durch das Asylrecht Schutz gewährt werden kann. Er wird als subsidiär Schutzberechtigter anerkannt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht.

Als ernsthafter Schaden gilt:

  • die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
  • Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
  • eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

Manche sprechen hier von einem „Pulleffekt“ oder von einer „Sogwirkung“ und vergessen dabei, in welch verzweifelter Lage Familien sein müssen, die ihr minderjähriges Kind auf die Flucht schicken müssen, um es zu retten. Sie leben mit der absoluten Ungewissheit, ihr Kind jemals wieder zu sehen. Auch die Möglichkeit für Flüchtlinge, nach einer dreijährigen Ausbildung, weitere zwei Jahre in Deutschland bleiben zu dürfen, ist ein gutes Ergebnis.

Würde ich nach all dem von mir denken: „Gut gemacht, ich habe denen, die der Bevölkerung Angst machen, abgetrotzt was möglich war.“? Oder würde ich denken: „hätte ich den faktisch wahrscheinlich sowieso fast unwirksamen Asylkompromiss, den Asylpaket II abgelehnt, ginge es mir nun formal und kurzfristig besser – aber das Damoklesschwert unberechenbarer Verschlechterungen, schwebt weiter über mir“? Ich weiß es nicht.

Jedenfalls werden wir zerstören, was uns wichtig ist, wenn wir es weiterhin so schützen, wie bisher.