Lothar Binding, MdB Bundesvorsitzender AG60 plus

An jeder Wegekreuzung, von der aus mehrere Wege in die Zukunft führen, ist es gut zu wissen, welche Wege man nicht gehen will. Um voran zu kommen, genügt es allerdings nicht zu sagen, welche Wege die bisherigen Weggefährten künftig gehen sollen. Allein damit bleibt man einfach stehen. Wir können uns nicht davor drücken zu entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen, wer mit uns gehen darf und ob wir einen bestimmten Weg deshalb nicht gehen, weil sich noch jemand dafür entschieden hat denselben Weg zu gehen.

In der Zwickmühle – dagegen aber dafür…

Die AG SPD 60 plus ist aus mehreren Gründen gegen eine Große Koalition. Der wichtigste Grund liegt in der demokratiepraktischen Erfahrung, dass Große Koalitionen übergangsweise übermächtig werden, um nachfolgend die politische Mitte, sich selbst zu marginalisieren und damit die Ränder, die Extreme zu stärken. Im konkreten Beispiel, der Koalition mit CDU und CSU gibt es die weitere Erfahrung, dass die Union nur Abschnittsweise zuverlässig ist. Vereinbarungen werden nicht eingehalten (Rückkehrrecht in Vollzeit, Glyphosat), ihre gesetzgeberische Umsetzung verzögert (Finanztransaktionssteuer), oder ihre Ziele ins Gegenteil verkehrt (Gesetz gegen Kassenbetrug, Erbschaftsteuergesetz). Ein dritter Grund liegt in der Beobachtung, dass CDU und CSU das Christliche zwar in ihrem Namen behaupten, dies aber ohne Nächstenliebe leben: in vielen Fällen der Armutsbekämpfung, der Hilfen bei Arbeitslosigkeit, der menschlichen Zuwanderung und Integration, der humanen Entwicklungszusammenarbeit, der gerechteren Einkommensbesteuerung, der Rüstungsbegrenzung, aber auch der Kooperation in Europa – stets wiegen die Ertragsinteressen bestimmter Konzerne, die Interessen an Einkommen und Vermögen wohlhabender Einzelpersonen mehr. Schließlich fehlen CDU und CSU Visionen um unsere Gesellschaft – auch im Spannungsfeld zwischen z.B. den USA und China zukunftsfest zu machen. Wesentliche Strukturverän-derungen, die auf Zeiträume jenseits weniger Legislaturperioden angelegt sind, werden blockiert. Als Beispiele seien die Struktur der Grenzsteuersatzkurve genannt, die Erwerbstätigenversicherung, die Bürgerversicherung, die faire Beteiligung großer Vermögen an den Gemeinschaftsaufgaben und insbesondere die ordnungspolitischen Aufgaben im Kontext der von Industrien über die Welt ausgebrachten Digitalisierung. Dabei ist die strukturelle Entscheidungsschwäche der Kanzlerin eine wahrscheinlich schon hinreichende Voraussetzung, dass diese Aufgaben einfach ungelöst liegen bleiben – bis einzelne Katastrophen dann hektische Reaktionen, Entscheidungen genannt, unabdingbar machen (drei Beispiele: Fukushima, Lehman Brothers, Flüchtlinge).

Die Wahlergebnisse der vergangenen Bundestagswahl für alle drei Koalitionspartner reflektieren diese Verhältnisse deutlich. Deshalb war es richtig, am Wahlabend die Fortsetzung der Großen Koalition wie bisher, auszuschließen. Die Verantwortung für eine Regierungsbildung lag in den Händen der stärksten Partei und den liberalen Wahlgewinnern, denn auch im Wahlkampf hatten CDU/CSU und FDP ihre Vorliebe für eine Regierungskoalition zelebriert. Die Grünen haben sich recht geschmeidig in diese Sondierungsverhandlungen eingeklinkt – niemand hatte damit gerechnet, dass die FDP ganz Deutschland wochenlang an der Nase herumführen und plötzlich mit fadenscheinigen Gründen, die Verhandlung abbrechen würde.

Die Lieblingslösung – ohne Chance

Damit wäre der Weg frei für eine Minderheitsregierung – denkbar in unterschiedlichsten Konstellationen. Und wie wir regelmäßig in anderen Ländern, auch in NRW sehen konnten, funktionieren Minderheitsregierungen, wenn das jeweilige Kabinett gut geführt ist, für seine Politik werben kann, eigene Ideen einbringt, eine Vorstellung von Zukunft hat. Aber genau aus diesen Gründen kann sich die Kanzlerin auf eine Minderheitsregierung nicht einlassen – ihr fehlt dazu das Handwerkszeug, auch wenn es unserer Demokratie, der parlamentarischen Debatte und der öffentlichen Beteiligung sehr gut getan hätte. Auch wenn wir gern die Hoffnung pflegen würden, dass sich in Folge der Verfahrensabläufe eine Minderheitsregierung „ergibt“ – eine planbare Möglichkeit, die sich im Anwendungsraum unserer Beschlusslagen findet, sehen wir nicht.

Sollen wir oder sollen wir nicht?

Deshalb reduzieren sich die – vor den ergebnisoffen geführten Sondierungsgesprächen noch vielfach diskutierten – Möglichkeiten, auf die beiden Alternativen: Große Koalition oder mögliche Neuwahlen.Die AG SPD 60 plus empfiehlt, nicht eilfertig Neuwahlen zu beschließen. Zunächst müssen wir aber das Wahlergebnis respektieren und unter der Randbedingung, dass die FDP sich bevorzugt auf der Bühne der Selbstdarstellung präsentiert als in Regierungsverantwortung, sollten wir die ernsthafte Prüfung einer erneuten Großen Koalition nicht vorschnell verweigern. Aber eben nicht als Fortsetzung des Bisherigen, sondern in einer inhaltlich substantiell erkennbaren neuen Zukunftsorientierung, die sich vielleicht, jenseits aller Einzelthemen, am besten mit der Vision „Vereinigte Staaten von Europa“ beschreiben lässt. Damit erschließen wir eine Vision, die an große Ziele der Vergangenheit anknüpft – etwa an „Blauer Himmel über der Ruhr“ oder „Wandel durch Annäherung“.

Die oft erhobene Forderung „Geht doch in die Opposition“ verschweigt ihre Voraussetzung, dass dafür zuerst einmal eine Regierung notwendig ist.

Sondierungsergebnis ist kein Koalitionsvertrag

Das Ergebnis der Sondierungsgespräche ist eine Grundlage, in bestimmten Themen ein Rahmen, in anderen nur eine Andeutung dessen, was sein könnte. Insgesamt bietet das Sondierungsergebnis die Möglichkeit eine Koalitionsvereinbarung zu verhandeln. Auch wenn einige essenzielle Ziele in der Sondierung bisher nicht erreicht werden konnten, wie etwa die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, der Einstieg in die Bürgerversicherung oder die Anhebung des Spitzensteuersatzes, in anderen Bereichen aber, wie die bundesweite Abschaffung der Kitagebühren, eine Neuorientierung der deutschen Europapolitik, Verbesserungen in der Beschäftigungspolitik, in der Familienpolitik und der Armutsbekämpfung, insbesondere der Kinderarmut, ist die sozialdemokratische Handschrift deutlich. Auch das Rentenniveau ist nur so lange stabil, wie Konjunktur, Beschäftigung, Rohstoffpreise und Zins so wachstumsfördernd bleiben – verändern sich die Randbedingungen, kommt das Renten-niveau schnell unter Druck. Deshalb ist die Stabilisierung des Niveaus in der Sondierungsvereinbarung nicht gering zu schätzen; wenn die Änderung der Rentenformel gelingt, ist das ein großer Erfolg.

Es wird schnell erkennbar sein, ob mit CDU/CSU ernsthafte Kompromisse angestrebt werden können oder aber ob sie ihre dogmatischen Grundsätze aus der Vergangenheit für zukunftsfähig hält. Damit ließen sich dann Neuwahlen aus Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft gut begründen – wenn nicht FDP und Grüne doch noch mit der Union koalieren. Jedenfalls liegt die Verantwortung dafür, dass eine Regierung gebildet wird wesentlich bei der Kanzlerin und CDU/CSU. Wenn die Regierungsbildung nach dem Desaster mit der FDP zu zweiten Mal scheitert, werden CDU/CSU über ihre Führungskräfte nachdenken müssen.Wir sollten unserem Parteivorstand an dieser Stelle den Rücken für die Verhandlungen stärken, um zu schauen, ob nicht doch noch weitere Reformen und Veränderungen mit der Union möglich sind. Insbesondere bei der Abschaffung der sachgrundlosen Befristung oder für preiswertes Wohnen sollte nachverhandelt werden.


Die Basis hat das letzte Wort

Falls die Koalitionsverhandlungen aber in gutem Sinne abgeschlossen werden können, haben alle Mitglieder der SPD die Möglichkeit diesen Koalitionsvertrag zu beurteilen und danach darüber zu entscheiden. Auch wenn im Regelfall das Delegiertenprinzip sehr gut funktioniert – in solchen besonderen Situationen, ist es klug diese Entscheidung basisdemokratisch abzusichern. Insbesondere unsere Neumitglieder haben so die Möglichkeit, sich zu beteiligen und an einer wichtigen Entscheidung mitzuwirken.

Mögliche Lösung

Wir sind überzeugt, dass mit diesem Vorschlag eine Große Koalition möglich ist, die keine Fortsetzung der vergangenen Koalition darstellt, wenn Partei- und Fraktionsführung zwar einerseits kompromissfähig sind, andererseits aber unsere Haltung klar vertreten, unser Profil pflegen und Kante zeigen, wenn die Regeln einer kritisch begleiteten Partnerschaft verletzt werden. So muss, um ein jüngstes Beispiel anzuführen, der Beleidigung aller Mitglieder der SPD, vehement entgegen getreten und wenigstens eine Entschuldigung eingefordert werden. Es geht künftig darum nicht jeden Kompromiss als Erfolg zu „verkaufen“, weil er sozialdemokratische Elemente enthält – es geht viel stärker darum auch zu erklären was uns im Kompromiss fehlt und warum CDU/CSU dies abgelehnt haben und warum ein Kompromiss gleichwohl besser ist als keine Entscheidung.

Wir werden auch erst im Verlauf von möglichen Koalitionsverhandlungen erfahren, ob sich zwischen den potentiellen Koalitionspartnern wieder Vertrauen herstellen lässt. Dabei wird es nicht genügen, dass die Kanzlerin „den Prozess begleitet“. Sie wird sicher hart für einen neuen Vertrauensaufbau arbeiten müssen.